Krankenkasse-Studie Das lukrative Geschäft mit den Übergewichtigen

Die Hälfte der Bundesbürger ist zu dick – Tendenz steigend. Sieben Millionen gehen wegen Adipositas bereits jährlich zum Arzt. Die Zahl der chirurgischen Eingriffe steigt rasant – obwohl diese zweischneidig sind.

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Unter mehr oder minder großem Übergewicht leiden in Deutschland 51 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen. Mehr als zwölf Millionen leiden unter Adipositas. Quelle: dpa

Berlin Volkskrankheiten wie Rückenschmerzen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Fettleibigkeit sind in Deutschland auf dem Vormarsch. Dabei endet die Leidensgeschichte von immer mehr Patienten im Krankenhaus. Das gilt auch für die wachsende Zahl von Menschen, die an krankhaftem Übergewicht leiden, im Fachjargon Adipositas genannt.

Allein 2014 mussten sich in Deutschland gut sieben Millionen Menschen wegen Adipositas in Praxen behandeln lassen, 14 Prozent mehr als noch im Jahr 2006. Davon haben immer mehr einen Eingriff im Krankenhaus zur Gewichtsreduktion vornehmen lassen: Die Zahl der so genannten bariatrischen Operationen verfünffachte sich auf 9225 im Jahr 2014. Die Barmer GEK hat an Hand ihrer Patientendaten erstmals eine Kosten- und Wirksamkeitsanalyse von solchen Operationen für Deutschland vorgelegt.

Bariatrische Operationen werden bei extrem übergewichtigen Adipositas-Patienten mit bedrohlichen Begleiterkrankungen gemacht, wenn alle anderen Therapieansätze gescheitert sind. Dazu zählten Magenverkleinerungen, Magenbypässe und Magenbänder. Allen Maßnahmen ist gemeinsam, dass über eine Verkleinerung des Magens eine geringere Nahrungsaufnahme beim Patienten erzwungen wird.

Der Studie zufolge sind solche Operationen oft medizinisch und auf lange Sicht auch unter Kostengesichtspunkten sinnvoll. Denn durch sie werden teure Folgeerkrankungen wie Diabetes, Bandscheibenvorfälle und weitere Rückleiden, Bluthochdruck oder andere Herzkrankheiten vermieden. Doch es gibt auch Risiken, heißt es im Bericht der Barmer GEK.

Bei der Vorstellung der Studie am Mittwoch in Berlin warnte der Vorstandschef der Barmer GEK Christoph Straub denn auch davor, bei Fettleibigkeit zu schnell zum Skalpell zu greifen. „Ein bariatrischer Eingriff sollte nur als Ultima Ratio zum Einsatz kommen.“ Tatsächlich könnten Operationen vermieden werden, wenn die behandelnden Ärzte früher aktiv werden würden, wenn sich zeigt, dass ein Patient immer dicker wird.

Unter mehr oder minder großem Übergewicht leiden in Deutschland 51 Prozent der Männer und 43 Prozent der Frauen. Der Anteil der krankhaft Übergewichtigen stieg zwischen 2003 und 2013 von 12,9 auf 15,7 Prozent. Das sind über 12 Millionen Menschen.

Trotzdem, dies fand die Barmer in früheren Untersuchungen heraus, wird Übergewicht in den Arztpraxen oft überhaupt nicht diagnostiziert. Umso eifriger therapiert werden aber Folge- und Begleiterkrankungen wie Rücken- und Gelenkverschleiß, Bluthochdruck, Diabetes oder Herzkrankheiten. Das Geld, das die Krankenkassen bei der Therapie der Krankheitsursache Übergewicht sparen, legen sie nicht selten doppelt und dreifach bei der Behandlung der meist chronisch verlaufenden Folgeerkrankungen drauf.


Eingriff birgt auch hohe Risiken

Fettleibige verursachten bis zu 150 Prozent höhere Gesundheitsausgaben und fehlen deutlich häufiger wegen Krankheit am Arbeitsplatz, so der Leiter des Kompetenzbereichs Gesundheit beim Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) Boris Augurzky. Er verweist auf Untersuchungen aus dem Jahr 2008. Damals betrugen die Krankheitskosten durch krankhaftes Übergewicht und die Folgeerkrankungen 8,6 Milliarden Euro pro Jahr. Zusätzlich entstanden indirekte Kosten durch Produktivitätsverluste von 8,2 Milliarden Euro.

Dies ist der Grund, warum die Barmer anders als in der Vergangenheit inzwischen Operationen nicht mehr grundsätzlich skeptisch gegenübersteht. Doch sollten die Patienten sehr sorgfältig ausgewählt werden. Denn der Eingriff birgt auch hohe Risiken. „Einerseits müssen sie nach einem Eingriff deutlich seltener aufgrund von Diabetes Typ zwei, Schlafstörungen oder Bluthochdruck behandelt werden, als ähnlich dicke Patienten, die nicht operiert werden“, so Augurzky, der den diesjährigen Klinik-Report für die Barmer erarbeitet hat. „Andererseits müssen Patienten nach einer solchen Operation öfter wegen Gallensteinen, Krankheiten des Verdauungssystems und Eingeweidebrüchen ins Krankenhaus.“ In den ersten vier Jahren nach der OP ist zudem das Sterberisiko um 7,7 Prozent höher als bei nicht operierten Patienten, die ähnlich übergewichtig sind.

Für die Kliniken sind bariatrische Operationen ein lukratives Geschäft. Deshalb bieten inzwischen rund 350 Krankenhäuser in Deutschland solche Operationen an.

Doch sie leisten nicht alle gleich gute Arbeit, warnt Barmer-GEK-Chef Straub. Er empfiehlt daher den Kranken, sich nur in eine der 44 Kliniken behandeln zu lassen, die von der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) zertifiziert wurden. „In einer zertifizierten Klinik kommt es seltener zu Komplikationen. Auch das Sterberisiko ist um 15 Prozent reduziert“, hat Augurzky an Hand der Patientendaten herausgefunden.

Auch für das knappe Budget der Krankenkassen zahlt sich die OP in einem zertifizierten Zentrum aus. Dort seien die Operationen und die Folgebehandlungen nach fünf Jahren im Schnitt um mehr als 3800 Euro pro Patient günstiger als in nicht zertifizierten Krankenhäusern. Beim Einbau eines Magenbypasses liegen die Kosten sogar um 6000 Euro niedriger und bei einem Schlauchmagen um rund 1700 Euro.


Düstere Prognose

Die Angst vor steigenden Gesundheitsausgaben ist auch ein Grund, warum die Barmer darauf drängt, Chancen und Risiken einer Operation in jedem Einzelfall gut abzuwägen. Als krankhaft gilt nach der aktuellen Definition Übergewicht ab einem Body-Mass-Index von 40 und mehr. Eine 1,60 Meter große Frau muss, um diesen Indexwert zu erreichen, über 100 Kilo wiegen. Würden alle Einwohner Deutschlands, die ein vergleichbar hohes Gewicht auf die Waage bringen, sich operieren lassen, würde das die Krankenkassenausgaben um 14,4 Milliarden Euro in die Höhe schnellen lassen, hat die Barmer errechnet.

Doch langfristig sinken durch Operationen die Behandlungskosten. Die Barmer GEK hatte bereits anhand der Behandlungsdaten von 2008 und 2009 untersucht, ob Operationen bei Patienten mit mittlerem bis schwerem Übergewicht auf Dauer zu Kosteneinsparungen führen. Heraus kam, dass ein Jahr nach der Operation die meisten Leistungsausgaben für diese Patienten in der Altersgruppe der unter 40-Jährigen und der 50- bis 59-Jährigen unter den Kosten für übergewichtige Zuckerkranke lagen, die nicht operiert wurden.

Nach ähnlichen Studien aus den USA wird die Rentabilitätsschwelle einer Operation gegen Fettleibigkeit nach drei Jahren erreicht. Auch das Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI), das dem Gesundheitsministerium untersteht, kam in einer Studie zu einem ähnlichen Ergebnis.

Nach dem aktuellen Klinikreport dauert es länger, bis sich die hohen Operationskosten rentieren: Wird der Patient in einem normalen Krankenhaus operiert, liegen danach die Behandlungskosten in den ersten fünf Jahren um 9000 Euro höher als bei einem nicht operierten Patienten. Bei der Operation in einem zertifizierten Zentrum sind es nur etwas über 5000 Euro, weil es dort seltener zu Komplikationen in Folge der Operation kommt.

Das Beste für alle wäre freilich, wenn die Menschen mit Übergewicht in Deutschland selbst die Initiative ergreifen würden. Denn die Ursachen für Adipositas liegen überwiegend in Faktoren, die von den Betroffenen selbst beeinflusst werden können. „Zu wenig Bewegung und eine zu energiereiche Ernährung“ seien die Hauptgründe so Augurzky.

Politik und gesellschaftliche Akteure wie die gesetzlichen Krankenkassen müssten sich stärker in der Prävention engagieren, fordert der Gesundheitsexperte des RWI. „Wenn wir die Dinge einfach so weiter laufen lassen, wird der Anteil adipöser Menschen über 50 Jahre bis zum Jahr 2030 um weitere 80 Prozent ansteigen“, warnt er.

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