Im deutschen Gesundheitssystem herrscht nur vordergründig der von der Politik immer wieder behauptete Wettbewerb um die qualitativ beste und effizienteste Versorgung der rund 70 Millionen gesetzlich Krankenversicherten. Zu diesem Ergebnis kommt die Monopolkommission der Bundesregierung in einem Sondergutachten und fordert Abhilfe. Vor allem verlangt sie von der Politik mit Blick auf die nächste Legislaturperiode, den Krankenkassen mehr Rechte und Möglichkeiten bei der Auswahl der Leistungsanbieter und der Gestaltung ihres Angebots an die Versicherten zu geben.
Formal herrscht so etwas wie Preiswettbewerb im deutschen Krankenversicherungssystem. Denn jeder gesetzlich Versicherte kann sich unter den 113 Krankenkassen, die es gibt, die nach seiner Ansicht am besten geeignete aussuchen. Dabei soll ihm auch helfen, dass die Krankenkassen unterschiedlich teuer sind.
Zwar gilt für alle Krankenkassen ein der gleiche gesetzliche allgemeine Beitragssatz von 14,6 Prozent, der je zur Hälfte von Versicherten und Arbeitgebern bezahlt werden und an den Gesundheitsfonds abgeführt werden muss. Doch können die Kassen Zusatzbeiträge erheben, wenn sie mit den Zuweisungen aus diesem Fonds nicht auskommen. Und das tun sie. In der Folge liegt die Spannweite beim Zusatzbeitrag zwischen 0,3 und 1,7 Prozent. Er muss von den Versicherten alleine aufgebracht werden.
Union und SPD haben dies in der Vergangenheit auch damit begründet, dass dadurch der Preiswettbewerb verstärkt werden würde. Das Dumme ist nur: Anders als die Preise von Tomaten oder Autos, bei denen es in der Regel einen Zusammenhang zwischen der Qualität oder der Knappheit der Ware und dem Kaufpreis gibt, fehlt dieser Zusammenhang bei Krankenkassen nahezu völlig.
„Die Höhe des Zusatzbeitrags ist kein zuverlässiges Signal für die Kaufentscheidung der Versicherten. Sie spiegelt keine Leistungsunterschiede wider“, so der Chefanalyst des Monopolkommission Marc Bataille am Dienstag auf einer Veranstaltung der Viactiv, derzeit mit 1,7 Prozent Zusatzbeitrag eine der teuersten deutschen Krankenkassen. Das Problem beginne beim Behandlungsmarkt, der für den einzelnen Patienten völlig intransparent sei, erläuterte Bataille. „Der Patient weiß ja, wenn er zum Beispiel zum Arzt geht, noch gar nicht, welches Produkt und welche Leistung er braucht. Das erzählt ihm ja in der Regel erst der Mediziner.“
Hinzu kommt, dass der Versicherte auch die Kosten der vom Arzt auf Basis der Diagnose ausgelösten Behandlung nicht kennt. Er hat vielmehr mit der Zahlung seines monatlichen Beitrags eine Art Flat-Rate entrichtet, für die er unbegrenzt viele und teure Leistungen in Anspruch nehmen kann, sofern sie im gesetzlichen Leistungskatalog stehen. Umso wichtiger wäre es eigentlich, dass die 113 Krankenkassen an seiner Stelle dafür sorgen, dass nur beste und effizient erbrachte Leistungen bei Ärzten Kliniken und anderen Leistungsanbietern eingekauft werden. Doch das dürfen sie nur sehr eingeschränkt. „Ihre Handlungsparameter im Wettbewerb sind nur wenige“ formuliert das Problem der Wettbewerbsexperte Bataille. So gilt ein einheitlicher Leistungskatalog für alle Versicherten, der durch ein Gremium mit Vertretern von Krankenkassen, Ärzten, Krankenhäusern und Patienten, den gemeinsamen Bundesausschuss, ständig entsprechend dem medizinischen Fortschritt weiter entwickelt wird. „Das lässt sich in einem solidarischen System, wie der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung noch gut begründen.“
Kassen haben zu wenig Wahlmöglichkeiten
In einem solchen System sollte sich der Wettbewerb stattdessen auf die Form der Leistungserbringung und die Auswahl der Leistungsanbieter konzentrieren. Doch auch hier seien den Krankenkassen die Hände gebunden. Sie müssten vielmehr mit allen zugelassenen Ärzten und allen Krankenhäusern die im Krankenhausplan stehen, einheitliche Vergütungsverträge schließen. Selektivverträge für bestimmte Krankheiten oder besondere Versorgungsprogramme seien die Ausnahme. Nach Ansicht der Monopolkommission haben die Krankenkassen daher bis heute auch kaum Möglichkeiten, ihre Kosten zu beeinflussen und so ein besonders gutes Preis-Leistungs-Verhältnis für ihre Versicherten herzustellen, das sich dann in Form besonders günstiger Zusatzbeiträge zeigen würde.
Was aber sorgt dann dafür, dass es trotz Kontrahierungszwang und bis auf ein paar freiwillige Zusatzleistungen, sogenannte Satzungsleistungen, identischen Leistungsangebots so große Preisunterschiede zwischen den Kassen gibt? Nach der Analyse der Monopolkommission sind dafür vor allem Fehler im Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen verantwortlich. Dieser morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich wurde erfunden, um dafür zu sorgen, dass keine Kasse dadurch Wettbewerbsnachteile hat, dass sie besonders viele kranke und arme Versicherte hat. „Im Prinzip ist das ein gutes System, über das jährlich über 200 Milliarden Euro fair verteilt werden könnten.“
Doch in der Praxis hab es ein paar Mängel. „Die führen inzwischen dazu“, so der Vorstandschef der Viactiv, einem Zusammenschluss von mehr als 70 kleinen Betriebskrankenkassen mit Sitz in Bochum, Reinhard Brücker, „dass derzeit rund 50 Prozent der Kassen immer reicher werden, während die andere Hälfte steigende Zusatzbeiträge fordern muss, um ihre Leistungsausgaben decken zu können.“ Vor allem drei Mängel sollten nach Ansicht der Monopolkommission umgehen beseitigt werden: Ein großer Fehler, der vor allem Kassen mit Versicherten in dicht besiedelten Regionen in Probleme bringt, ist, dass im Finanzausgleich regionale Kostenunterschiede nicht ausgeglichen werden.
Viactiv-Chef Brücker, dessen Kasse besonders viele Versicherte in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein hat, weiß ein Lied davon zu singen. Die Stadt Herne in Nordrhein-Westfalen, um nur ein Bespiel zu nennen, hat das dichteste Krankenhausangebot in ganz Deutschland. Nordrhein-Westfalen ist ungefähr so groß wie die Niederlande, hat aber doppelt so viele Krankenhäuser. Die produzierten aber nach den Regeln der „angebotsinduzierten Nachfrage“ weit höhere Gesundheitsausgaben, als sie in Regionen mit einem weniger dichten Angebot an Leistungen entstehen, so Chefanalyst Bataille. Das führt dazu, dass Kassen mit vielen Versicherten in teuren Regionen im bundesweiten Wettbewerb über einen hohen Zusatzbeitrag benachteiligt werden.
Die Kommission spricht sich dafür aus, die regionalen Kostenunterschiede entweder durch Zu- und Abschläge bei den Zuweisungen an die Kassen zu berücksichtigen, oder die Krankenkassen per Gesetz zu verpflichten, ihre Beitragssätze für jede Region unterschiedlich festzusetzen. Das würde dazu führen, dass etwa die Viactiv ihre Leistungen künftig in Schleswig-Holstein billiger anbieten könnte. Für Herne hingegen müssten auch die Kassen, die bislang ihren Zusatzbeitrag durch Mitglieder aus günstigeren Regionen in anderen Teilen des Bundesgebiets „heruntersubventionieren“ können, höhe regionale Beitragssätze verlangen. In der Politik hat eine solche Zersplitterung der Beitragslandschaft derzeit allerdings keine Chance.
Kassen sollten Rabatte gewähren können
Kritisch sieht die Monopolkommission auch, dass die Kassen derzeit aus dem Ausgleich für 80 speziell definierte Krankheiten besondere Zuweisungen kriegen. Im Prinzip sei dagegen zwar nichts zu sagen. Doch entstehe dadurch ein Anreiz für die Kassen, sich um die Prävention und Heilung von Krankheiten wie Diabetes weniger zu kümmern, weil es für kranke Versicherte mehr Geld aus dem Ausgleich gibt. So gibt es für Zuckerkranke weniger Geld, wenn sich ihr Gesundheitszustand soweit verbessert hat, dass sie kein Insulin mehr brauchen. Die Kommission schlägt daher vor, dass es für Kassen, bei denen die Krankheitslast zunimmt, Abschläge beim Finanzausgleich gibt.
Außerdem fordert sie, dass Kassen und Ärzteverbände sich endlich einheitliche Regeln für das Kodieren von Diagnosen geben. Hintergrund sind Vorwürfe, dass etliche Krankenkassen über spezielle Verträge Ärzte dafür finanziell belohnt haben, dass sie bei Patienten Krankheiten vermehrt diagnostizieren , die zu zusätzlichen Zuweisungen aus dem Morbi-RSA führen. Besonders am Pranger standen hier in den vergangenen Monaten die Ortskrankenkassen, weil sie sehr früh mit dieser Art der „Kodierberatung“ begonnen haben. Inzwischen müssen sich aber alle Kassen mit derlei Vorwürfen auseinandersetzen.
Mindestens ebenso wichtig ist der Kommission, dass die Kassen mehr Möglichkeiten bekommen, direkt auf das Versorgungsgeschehen Einfluss zu nehmen: So schlagen sie vor, den gesetzlichen Leistungskatalog in Zukunft zum Standardtarif zu machen. Auf seiner Basis sollen die Kassen dann Wahlmöglichkeiten eröffnen dürfen, die immer billiger als dieser Standardtarif sein sollen. So könnte eine Kasse Versicherten, die sich bereit erklären, bei planbaren Leistungen wie einer Hüftoperation oder einer Krebs-OP immer die Klinik aufzusuchen, mit denen seine Kasse besondere Qualitätsverträge hat, einen Preisnachlass gewähren.
Das Gleiche soll auch bei Versicherten geschehen, die bereit sind, vor jedem Facharztbesuch den Hausarzt in Wohnortnähe aufzusuchen, mit dem seine Krankenkasse besondere Verträge geschlossen hat. Solche Wahltarife sieht die Monopolkommission auch als einen Weg, bestehende Überkapazitäten im Gesundheitssystem abzubauen. Je mehr Versicherte sich nämlich für solche Wahltarife entscheiden, umso eher wären Krankenhäuser und Ärzte, die die Qualitätsanforderungen der Kasse nicht erfüllen, gezwungen, vom Markt zu verschwinden, weil ihnen die Patienten abhandenkämen.
Ein solches Wahltarifmodell würde damit das heutige Planungsmonopol der Länder, Krankenhäuser und der Kassenärztlichen Vereinigungen für den Bedarf an Arztpraxen unmittelbar bedrohen. Das ist auch der Grund, warum sich in der Vergangenheit kein Politiker für eine so grundlegende Reform des Tarifsystems der Krankenkassen bereitgefunden hat.