Krisenjahr 2014 Was die Finanzkrise und die des Islam verbindet

Der Westen hat keinen Grund zum Hochmut angesichts des Chaos im Nahen Osten. Unsere Krise wurzelt in der gleichen Anmaßung wie die des Islam. Auf der Strecke bleiben dort die Würde des Menschen – und die Würde der Erde bei uns.

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Die zehn reichsten Terrorgruppen der Welt
Platz 10: Boko HaramJahreseinkommen: 25 Millionen US-DollarZiele: „Die moderne Erziehung ist Sünde“ – dafür steht Boko Haram. Die islamistische Terrorgruppe, die sich mittlerweile „Vereinigung der Sunniten für den Ruf zum Islam und den Dschihad“ nennt, will westliche Bildung in Nigeria verbieten und die Scharia einführen. Sie machte sich einen Namen, indem sie zahlreiche Christen und moderate Muslime in Nigeria ermordet hat. Im Frühjahr 2014 hatte Boko Haram über 200 Mädchen aus einer Schule entführt (Foto). Quelle: AP
Platz 9: Real IRAJahreseinkommen: 50 Millionen US-DollarZiele: Die Real IRA beansprucht der einzige rechtmäßige Nachfolger der „Irish Republican Army“ (IRA) zu sein. Wie ihre von 1919 bis in die 70er Jahre bestehende paramilitärische Organisation, strebt auch die neue IRA die komplette Unabhängigkeit ganz Irlands – also auch Nordirlands – von Großbritannien an. Die 1997 gegründete Gruppe zeigt sich verantwortlich für einen Bombenanschlag 1998 im nordirischen Omagh, der 29 Menschen tötete. Beim Beschuss einer Kaserne tötete die Real IRA 2009 zwei britische Soldaten. Quelle: AP
Platz 8: Al-ShabaabJahreseinkommen: 70 Millionen US-DollarZiele: Sie waren sogar Osama bin Laden zu hart: Bis zu dessen Tod bemühte sich die somalische Terrororganisation al-Shabaab ins Netzwerk von al-Qaida aufgenommen zu werden. Bin Laden wehrte sich dagegen, da al-Shabaab auch Muslime ermordet. Das Ziel der Gruppe ist es, einen islamischen Staat am Horn von Afrika zu errichten und sich an einem weltweiten Dschihad zu beteiligen. Sie bekämpft dafür die somalische Regierung und kontrolliert bereits Teile Südsomalias, wo sie streng nach der Scharia regiert. Das Foto zeigt Denis Allex, einer 2013 von den Terroristen getötete französische Geisel. Al-Shabaab hat bin Ladens Nachfolger Aiman az-Zawahiri die Treue geschworen und gilt seitdem als lokaler Ableger von al-Qaida. Quelle: dpa
Platz 7: Laschkar e-TaibaJahreseinkommen: 100 Millionen US-DollarZiele: Im Kaschmirkonflikt zwischen Indien und Pakistan mischt auch die Terrororganisation Laschkar e-Taiba mit. Sie wollen die Muslime im indischen Teil Kaschmirs befreien und einen islamischen Staat errichten. Auf ihr Konto gehen Anschläge in Mumbai 2006 und 2008 – unter anderem auf das Luxushotel Taj Mahal Palace (Foto). Quelle: REUTERS
Platz 6: Al-Qaida und seine AblegerJahreseinkommen: 150 Millionen US-DollarZiele: Das lose weltweite Netzwerk meist sunnitischer Islamisten will einen weltumspannenden Gottesstaat aller islamischen Länder herbeiführen. Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist al-Qaida in aller Munde. Das Foto zeigt die New Yorker Gedenkstätte. Quelle: AP
Platz 5: TalibanJahreseinkommen: 400 Millionen EuroZiele: Die Taliban wollen ihre Macht in Afghanistan zurückerlangen, die sie nach dem Einmarsch der US-Einheiten ins Land 2003 verloren hatten. Die Islamisten verüben seit dem von Pakistan aus gezielte Anschläge gegen afghanische und internationale Truppen sowie gegen die afghanische Bevölkerung. Letztere leidet am meisten darunter: mehr als doppelt so viele Anschläge treffen die Zivilbevölkerung. Das Bild zeigt einen Anschlag vom Oktober 2014. Quelle: dpa
Platz 4: HisbollahJahreseinkommen: 500 Millionen US-DollarZiele: Einerseits Partei, andererseits Miliz – die schiitische Hisbollah stellt mehrere  Parlamentsabgeordnete im Libanon und war schon an mehreren libanesischen Regierungen beteiligt. Die Miliz der Hisbollah sieht sich angesichts der schwachen libanesischen Armee als die Beschützer des Libanons – vor allem vor Israel. Die Hisbollah entstand 1982, nachdem Israel das Land angegriffen hatte. Mit den USA, Kanada und Israel stufen lediglich drei Staaten die gesamte Hisbollah als terroristisch ein; die EU sieht lediglich die Miliz als Terrororganisation. Quelle: dpa

 

Als Journalist wundert man sich im ereignisreichen Sommer 2014, mit welchen Banalitäten die Kollegen in früheren Jahren wohl die Zeitungen bestückt haben. Angesichts der blutigen Bürgerkriege in der Ukraine, im Irak, in Syrien, in Libyen und in Afghanistan erscheint sogar die Schuldenkrise der westlichen Industriestaaten nicht mehr als „die Krise“ schlechthin, sondern nur als eine von vielen Erschütterungen der Gegenwart.

Und man fragt sich: Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Krisen? Finden sie nur rein zufällig gleichzeitig statt? Oder sind sie miteinander verwandt?

Der Konflikt in und um die Ukraine ist die am einfachsten zu verstehende der drei großen Krisen. Wir bewegen uns da auf historisch bekanntem Terrain mit Zutaten, die wir aus dem Erfahrungsschatz der vergangenen beiden Jahrhunderte kennen: Ein autoritärer Machthaber braucht zur Sicherung seiner Herrschaft außenpolitische Siege (vergleiche zum Beispiel Napoleon III.), nationale Minderheiten suchen den Anschluss ans Mutterland und werden instrumentalisiert (vergleiche Balkankriege); ein Bündnis der anderen Großmächte versucht, dem Aggressor Einhalt zu gebieten (vergleiche Krimkrieg). Seit 1945 sorgt die Atombombe dafür, dass es nicht zu einem großen Krieg kommt. In der Regel geht alles mit überschaubaren Verlusten, einem Friedensabkommen, neuen Grenzen und internationalen Sicherheitskonstruktionen glimpflich aus.

Diese Krise wird in einigen Monaten eingehegt und in einigen Jahren hoffentlich von allen Beteiligten verdaut sein. Vielleicht wird Russland nach dem Konflikt stärker oder schwächer dastehen. Aber die Welt wird dadurch keine andere sein als zuvor.

Von den beiden anderen Krisen kann man das alles nicht sagen. Denn es sind keine konventionellen Konflikte zwischen bekannten Mächten, sondern Zerreisproben von Gesellschaften, von Kulturen, die epochale Veränderungen durchmachen und nach neuen Wegen suchen. Und sie ähneln sich auf erschreckende Weise.

Kurt Biedenkopf nennt sie Begrenzungskrisen. Sie entstehen zwangsläufig, wenn ein Teilbereich der Gesellschaft die totale Vorherrschaft vor allen anderen einnimmt und die Lösung aller Probleme verspricht. In der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, ist das maßlose Prinzip die Religion; im Westen ist es die Ökonomie. Beide machen den Menschen grenzenlose Versprechen, die sich in einer begrenzten Welt unvermeidlich irgendwann – nämlich jetzt! – als unerfüllbar entpuppen.

Die afghanischen Taliban und die Wahhabiten des „Islamischen Staates“ zeigen der Welt, in welchen Abgrund mörderischer Gewalt und der Zerstörung jeglicher Zivilisation ein religiöser Herrschaftsanspruch führen kann. Das sind Extreme. Aber auch jenseits des Herrschaftsgebiets des IS und der Taliban beeinflusst die Religion alle anderen Bereiche des Lebens. In dem riesigen Raum zwischen Marokko und Pakistan gibt es kaum religionsfreie Reservate. Nirgendwo sind die Bewohner und schon gar nicht die Bewohnerinnen eines islamischen Landes vor dem Anspruch der Religion geschützt, in ihr Leben hineinzuregieren. Beispiel Sport: Iranische Fußballerinnen dürfen nur mit Kopftuch kicken, saudische Frauen dürfen daran nicht mal denken. Beispiel Wissenschaft: Evolutionsbiologie ist an arabischen Universitäten tabu, da wissenschaftliche Erkenntnisse nicht dem Koran widersprechen dürfen.

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