




Als Journalist wundert man sich im ereignisreichen Sommer 2014, mit welchen Banalitäten die Kollegen in früheren Jahren wohl die Zeitungen bestückt haben. Angesichts der blutigen Bürgerkriege in der Ukraine, im Irak, in Syrien, in Libyen und in Afghanistan erscheint sogar die Schuldenkrise der westlichen Industriestaaten nicht mehr als „die Krise“ schlechthin, sondern nur als eine von vielen Erschütterungen der Gegenwart.
Und man fragt sich: Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Krisen? Finden sie nur rein zufällig gleichzeitig statt? Oder sind sie miteinander verwandt?
Der Konflikt in und um die Ukraine ist die am einfachsten zu verstehende der drei großen Krisen. Wir bewegen uns da auf historisch bekanntem Terrain mit Zutaten, die wir aus dem Erfahrungsschatz der vergangenen beiden Jahrhunderte kennen: Ein autoritärer Machthaber braucht zur Sicherung seiner Herrschaft außenpolitische Siege (vergleiche zum Beispiel Napoleon III.), nationale Minderheiten suchen den Anschluss ans Mutterland und werden instrumentalisiert (vergleiche Balkankriege); ein Bündnis der anderen Großmächte versucht, dem Aggressor Einhalt zu gebieten (vergleiche Krimkrieg). Seit 1945 sorgt die Atombombe dafür, dass es nicht zu einem großen Krieg kommt. In der Regel geht alles mit überschaubaren Verlusten, einem Friedensabkommen, neuen Grenzen und internationalen Sicherheitskonstruktionen glimpflich aus.
Diese Krise wird in einigen Monaten eingehegt und in einigen Jahren hoffentlich von allen Beteiligten verdaut sein. Vielleicht wird Russland nach dem Konflikt stärker oder schwächer dastehen. Aber die Welt wird dadurch keine andere sein als zuvor.
Von den beiden anderen Krisen kann man das alles nicht sagen. Denn es sind keine konventionellen Konflikte zwischen bekannten Mächten, sondern Zerreisproben von Gesellschaften, von Kulturen, die epochale Veränderungen durchmachen und nach neuen Wegen suchen. Und sie ähneln sich auf erschreckende Weise.
Kurt Biedenkopf nennt sie Begrenzungskrisen. Sie entstehen zwangsläufig, wenn ein Teilbereich der Gesellschaft die totale Vorherrschaft vor allen anderen einnimmt und die Lösung aller Probleme verspricht. In der Umma, der Gemeinschaft der Muslime, ist das maßlose Prinzip die Religion; im Westen ist es die Ökonomie. Beide machen den Menschen grenzenlose Versprechen, die sich in einer begrenzten Welt unvermeidlich irgendwann – nämlich jetzt! – als unerfüllbar entpuppen.
Die afghanischen Taliban und die Wahhabiten des „Islamischen Staates“ zeigen der Welt, in welchen Abgrund mörderischer Gewalt und der Zerstörung jeglicher Zivilisation ein religiöser Herrschaftsanspruch führen kann. Das sind Extreme. Aber auch jenseits des Herrschaftsgebiets des IS und der Taliban beeinflusst die Religion alle anderen Bereiche des Lebens. In dem riesigen Raum zwischen Marokko und Pakistan gibt es kaum religionsfreie Reservate. Nirgendwo sind die Bewohner und schon gar nicht die Bewohnerinnen eines islamischen Landes vor dem Anspruch der Religion geschützt, in ihr Leben hineinzuregieren. Beispiel Sport: Iranische Fußballerinnen dürfen nur mit Kopftuch kicken, saudische Frauen dürfen daran nicht mal denken. Beispiel Wissenschaft: Evolutionsbiologie ist an arabischen Universitäten tabu, da wissenschaftliche Erkenntnisse nicht dem Koran widersprechen dürfen.