Am Sonntag fügen Horst Seehofer und Andrea Nahles erst noch einmal etwas mehr Zement an die Hürden, die sie vor einer möglichen Lösung des Koalitionsstreits um Hans-Georg Maaßen aufgestellt haben. Ein für alle drei Koalitionsparteien dauerhaft zufriedenstellendes Ende der Chaostage um den Verfassungsschutzpräsidenten scheint kaum vorstellbar.
Klar ist: Seehofer lässt Maaßen nicht fallen. Dieser sei „ein hoch kompetenter und integrer Mitarbeiter“, er habe kein Dienstvergehen begangen, sagt der Bundesinnenminister der „Bild am Sonntag“. „Deshalb ist es mir unerklärlich, warum die SPD eine Kampagne gegen Herrn Maaßen führt.“ Er entlasse keine Mitarbeiter, „weil die politische und öffentliche Stimmung gegen sie ist“. Nahles bekräftigt, als Verfassungsschutzpräsident sei Maaßen nach seinen Äußerungen zu Chemnitz nicht mehr tragbar. Die Lösung dürfe das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen nicht verletzen. An Maaßen werde die Regierung nicht scheitern. Aber sie scheitere, wenn gegenseitiges Vertrauen und Verlässlichkeit nicht mehr gegeben seien.
So gehen sie also hinein in weitere Verhandlungen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) – der CSU-Chef, dessen Partei drei Wochen vor der Landtagswahl in Bayern bei 35 Prozent herumdümpelt, und die SPD-Vorsitzende, die auch um die Macht in ihrer Partei kämpft. Am Montag muss sich Nahles dem SPD-Präsidium, dem 45-köpfigen Parteivorstand und ihrer Bundestagsfraktion stellen. Der Unmut der GroKo-Kritiker könnte sich vor allem im Vorstand Bahn brechen. Forderungen nach einem Karriereende für Seehofer sind in der SPD in den vergangenen Tagen nicht abgerissen.
Die Sorge in der CSU ist: Muss Maaßen gehen, würde davon vor allem die AfD profitieren – erst recht, nachdem sich Seehofer so lange und so klar hinter den Spitzenbeamten gestellt hat. Deshalb wurde der bisherige Plan, Maaßen zum Staatssekretär zu befördern, in der CSU zunächst begrüßt. Doch inzwischen ist das Bild uneinheitlicher: Auch in der CSU hat man besorgt registriert, auf wie viel Kritik Maaßens bisher geplante Beförderung in der Bevölkerung gestoßen ist. Auch in der CSU finden viele so eine Beförderung schwer erklärbar.
Nahles wiederum verlangt anders als manche Genossen zumindest nicht, dass Seehofer Maaßen in den Ruhestand schicken soll. Aber befördert werden dürfe er auch nicht. Die Kanzlerin will vor allem eine Lösung. Dass die an diesem Wochenende gefunden werden sollte, kam am Freitag von Merkel. Über die zunächst stattfindende Telefondiplomatie teilte Seehofer via „Süddeutscher Zeitung“ mit: „Momentan sind wir nach meiner Einschätzung auf gutem Weg.“ Zur Causa Maaßen hatte Merkel bisher nur gesagt, das Vertrauen in ihn sei in Teilen der Koalition nicht mehr gegeben. Ob sie sich da einschloss, blieb unklar.
Aus CSU-Sicht ist entscheidend, dass ein Kompromiss nicht als Einknicken gegenüber der SPD gewertet wird, in der Bevölkerung als nicht so fragwürdig erscheint - und dass er vor allem schnell kommt. Ministerpräsident Markus Söder will sich vom Maaßen-Streit seinen Wahlkampf nicht noch weiter torpedieren lassen.
Warum Hans-Georg Maaßen in der Kritik steht
Nachdem am 26. August ein 35-jähriger Deutscher in Chemnitz erstochen worden ist, folgen hunderte Demonstranten dem spontanen Aufruf einer fremdenfeindlichen Hooligan-Gruppe. Sie ziehen durch die Innenstadt, einige attackieren ausländisch aussehende Menschen. Handy-Videos zeigen, wie Menschen aggressiv auf einen Mann zugehen. Am Tag drauf kommen Tausende zu einer Kundgebung der rechtspopulistischen Bewegung Pro Chemnitz zusammen. Einige zeigen den Hitlergruß. Am 28. August sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), dass in einem Rechtsstaat kein Platz für „Hetzjagden“ auf Ausländer sei.
Am 7. September meldet sich Maaßen in der „Bild“-Zeitung zu Wort: dem Verfassungsschutz lägen „keine belastbaren Informationen darüber vor, dass solche Hetzjagden stattgefunden haben“. Zu einem Video, das am Abend des 26. August auf Twitter veröffentlicht wurde und Jagdszenen auf ausländische Menschen zeigen soll, sagt er: „Es liegen keine Belege dafür vor, dass das im Internet kursierende Video zu diesem angeblichen Vorfall authentisch ist.“ Nach seiner vorsichtigen Bewertung „sprechen gute Gründe dafür, dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken“.
Noch am selben Tag bricht eine heftige Debatte über Maaßen los, verlangen Politiker von SPD und CDU Aufklärung von ihm, legen Linke und Grüne ihm den Rücktritt nahe. Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden teilt mit, sie habe keine Anhaltspunkte dafür, dass das Video ein Fake sein könnte. Innenminister Horst Seehofer sagt auf die Frage, ob Maaßen sein volles Vertrauen habe: „Ja.“ Sein Informationsstand sei mit dem von Maaßen identisch. Noch am Abend veröffentlicht das BfV eine Stellungnahme: Die sozialen Netzwerke spielten, so das BfV, auch in Chemnitz eine große Rolle. „Gerade dort finden sich aber immer wieder Fake-News und Versuche der Desinformation.“ Das BfV prüfe alle zugänglichen Informationen.
Beobachter kommen schnell zu dem Schluss, dass es kaum Zweifel an der Echtheit des von Maaßen angeführten Videos gibt. Eine technische Manipulation scheint unwahrscheinlich. Bebauung und Personen im Hintergrund entsprachen den Szenen vom 26. August vor Ort, Augenzeugenberichte stimmen mit den Bildern überein. Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) wirft Maaßen vor, er habe Medien pauschal unter Manipulationsverdacht gestellt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nach der tödlichen Messerattacke auf den 35-Jährigen auch nicht wegen Mordes, sondern wegen gemeinschaftlichen Totschlags. Mittlerweile ist ein 22-jähriger Iraker wieder auf freiem Fuß. Ein 23-jähriger Syrer ist weiter in Untersuchungshaft. Nach einem weiteren 22-jährigen Iraker wird gefahndet.
Am 10. September sagt SPD-Chefin Andrea Nahles, wenn Maaßen keine Belege für seine Äußerungen vorlege, sei er in seinem Amt nicht mehr tragbar. Am 12. September wird ein Bericht Maaßens an Seehofer zu seinen umstrittenen Äußerungen bekannt. Darin wirft er dem Twitter-Nutzer, der das Chemnitzer Video veröffentlichte, vor, dieses vorsätzlich mit der falschen Überschrift „Menschenjagd in Chemnitz“ versehen zu haben, „um eine bestimmte Wirkung zu erzielen“. Am selben Tag muss Maaßen vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium und dem Innenausschuss des Bundestags aussagen.
Seehofer sagt hinterher, er sehen keinen Anlass für personelle Konsequenzen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagt am Tag darauf trotzdem: „Für die SPD-Parteiführung ist völlig klar, dass Maaßen gehen muss. Merkel muss jetzt handeln.“ Am 15. September sagt Nahles: „Herr Maaßen muss gehen, und ich sage Euch, er wird gehen.“ Ein zweites Spitzentreffen von Merkel, Seehofer und Nahles in der Sache hat am 18. September die Beförderung von Maaßen zum Innenstaatssekretär zum Ergebnis. Nach heftiger Kritik in der SPD, Teilen der CDU und aus der Bevölkerung verlangt Nahles am 21. September, noch einmal neu über Maaßen zu verhandeln.
Auch in der CDU waren viele empört über die geplante Beförderung Maaßens. Etliche wütende Bürgerbriefe erreichten die Abgeordneten. Hessens ebenfalls vor einer Wahl stehender Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) dringt auf ein schnelles Ende des Streits.
Zu Wort meldet sich auch der Bundestagspräsident. Wolfgang Schäuble geht nicht direkt auf das schwarz-rote Hickhack ein, auch nicht auf Seehofers harte Linie gegenüber Flüchtlingen und Migranten, die die Koalition bereits vor knapp drei Monaten fast gesprengt hätte. Mit Blick auf Verunsicherung in der Bevölkerung und Erfolge der AfD sagt er der „Welt am Sonntag“ aber, man solle nicht zu starke Hoffnungen schüren, Menschen ohne Bleiberecht könnten alle abgeschoben werden. Und allgemein: „Nun möge diese Regierung gut regieren!“
Ohne „tragfähige Lösung“ (Merkel) für Maaßen wird daraus wohl nichts. Aber dass hinterher alle – von den SPD-Linken bis zu den CSU-Konservativen – zufrieden sind, ist schwer denkbar. Selbst wenn Maaßen doch noch freiwillig seinen Hut nimmt, sähe es wohl für viele, die nichts gegen ihn haben, so aus, als wäre er Opfer politischen Machtgeschachers. Seehofer meint, er habe ja schon vorgeschlagen, dass Maaßen Chef einer Bundes-Oberbehörde werden könne. Wenn dies etwa das Bundeskriminalamt wäre, dann wäre er also weiter Spitzenbeamter in Sachen Sicherheit. Auch als Beauftragter des Ministers für Sicherheit und internationale Zusammenarbeit kann sich Seehofer Maaßen vorstellen. Dann würde Maaßen wohl unter Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Welt reisen. Nahles habe beides abgelehnt, so Seehofer.
So ist nicht vom Tisch, dass die Dynamik der Koalitionskrise noch unkalkulierbarer wird. Hinter dem Streit steckt auch der Druck, unter dem die Parteien seit langem stehen. Nicht nur die CSU bangt in Bayern. Die SPD liegt mit 11 bis 13 Prozent im Umfragekeller. Kein Wunder, dass Bayerns SPD-Chefin Natascha Kohnen die SPD-Spitze besonders hartnäckig zu einer Ablösung Maaßens drängt. Die AfD dürfte laut Umfragen mit 10 bis 14 Prozent in den Landtag einziehen. Bundesweit sackte die Union in Umfragen zuletzt auf unter 30, die SPD auf 17 Prozent. Die AfD erreicht bis zu 18 Prozent. Erschwert wird die Suche nach einer Lösung auch durch das haarige Verhältnis zwischen Seehofer und Merkel. Ginge es CDU, CSU und SPD besser und würden sich ihre Vorsitzenden besser verstehen, wäre wohl auch der Maaßen-Streit nicht so eskaliert.