Professor Mueller, der Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren war eine historische, politische und ökonomische Zäsur. Damals platzten die Hoffnungen der Marxisten, den Kapitalismus zu besiegen. Was ist vom Marxismus heute noch übrig?
Wir sollten die Wirkmächtigkeit der marxistischen Ideen nicht unterschätzen. Dass die DDR und die Sowjetunion gescheitert sind, heißt nicht, dass der Marxismus und seine Vertreter den Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft und den Kapitalismus aufgegeben haben.
Marxisten gibt es doch nur noch in Nordkorea, Kuba und Venezuela.
In der Öffentlichkeit wird der Marxismus meist mit revolutionären Bewegungen wie denen von Lenin, Mao, Castro oder Chavez in Verbindung gebracht. Doch der revolutionäre Marxismus ist nur eine Spielart des Marxismus…
...die krachend gescheitert ist.
Der revolutionäre Marxismus hat auf die Arbeiter gesetzt. Durch den Aufstand des Proletariats sollte das Privateigentum in die Hände des Staates überführt werden. Doch die Proletarier hatten kein Interesse an einem Umsturz der Verhältnisse. Sie wollten sichere Jobs und steigende Löhne. Deshalb konnte sich der revolutionäre Marxismus nur mit Gewalt durchsetzen, in vielen Ländern hinderten die Marxisten die Menschen an der Ausreise, so wie in der DDR. Aber es gibt noch eine andere, erfolgreichere Spielart des Marxismus.
Welche?
Den Kulturmarxismus. Er setzt nicht auf Revolutionen, sondern auf Reformen. Seine Adressaten sind nicht die Arbeiter, sondern die Intellektuellen. Marx war selbst ein Intellektueller, kein Arbeiterführer. In seinen Thesen zu Feuerbach schrieb er: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern“. Es sind die Philosophen, die Intellektuellen, denen Marx die Aufgabe zuweist, die Welt zu ändern. Der wichtigste Vordenker des Kulturmarxismus war Antonio Gramsci.
Sie meinen den Philosophen und Mitgründer der Kommunistischen Partei Italiens?
Ja, Gramsci lebte von 1891 bis 1937. Seine Strategie war, die Intellektuellen für den Marxismus zu gewinnen und mit ihrer Hilfe die Kultur und die Institutionen des Bürgertums, die Schulen, Universitäten, Kirchen, das Rechtssystem und die Medien zu unterwandern. So sollte der Marxismus die ideologische Hegemonie gewinnen. Gramsci betrachtete den Sozialismus als „genau die Religion, die das Christentum überwinden muss“. Er hatte erkannt, dass jede Gesellschaft einen ideologischen Stützpfeiler benötigt. In der bürgerlichen Gesellschaft des Westens ist das traditionell das Christentum. Gramsci wollte es durch den Sozialismus ersetzen und so die bürgerliche Gesellschaft zerstören.
Gramsci ist längst tot.
Aber seine Ideen leben. In den 1960er Jahren bauten die marxistischen Philosophen und Soziologen der Frankfurter Schule, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Jürgen Habermas auf Gramscis Ideen auf. Die von der Frankfurter Schule entwickelte Kritische Theorie zielt darauf ab, das kapitalistische System von A bis Z zu kritisieren, den Kapitalismus schlechtzureden und dessen Erfolge ins Negative zu wenden. Beispielsweise werden die ungeheuren Konsummöglichkeiten der Menschen zum Konsumterror umgedeutet. Durch solch negative Konnotationen und die permanente Kritik an den bestehenden Verhältnissen soll das Vertrauen der Menschen in das kapitalistische System untergraben werden. Die Ideen der Frankfurter Schule sind bis heute wirkmächtig, nicht nur in Europa.
Wo sonst noch?
In den USA zum Beispiel. Dort gibt es die Bewegung der Democratic Socialists of America. Ihre Galionsfiguren, der Altkommunist Bernie Sanders und die Aktivistin Alexandria Ocasio-Cortez, erfreuen sich enormer Popularität. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis diese Bewegung auch nach Europa überschwappt und hier an Bedeutung gewinnt. Der Marxismus kommt heute nicht mehr in Armeestiefeln daher, sondern auf Samtpfoten.




