Kurt Biedenkopf „Die Regierung wird auf Treibsand agieren“

Seite 2/2

Die SPD ist am Ende - die AfD wird bleiben

Also erwarten Sie eine instabile Regierung?
Eine gelähmte. Die Regierung wird erkennen müssen, dass sie auf dem Treibsand der Beliebigkeit agiert und sich nicht auf den Fels der Sicherheit verlassen kann. Darum wird sie behutsam umgehen mit tiefgreifenden Veränderungen und notwendigen Forderungen der Begrenzung. Spätestens in fünf bis zehn Jahren wird aber evident werden, dass Regierungen in Europa, die Demokratien bleiben und nicht Diktaturen werden wollen, viel mehr von der Bevölkerung einfordern müssen als bisher. Die wichtigste Forderung lautet: Die Bürger müssen in vielen Bereichen mehr leisten, weil der Staat es nicht mehr kann.

Schwindet der Wille zum eigenständigen Engagement in öffentlichen Angelegenheiten?
Ich sehe das anders. Die Bürger würden gerne mehr leisten und selbst handeln in kleinen Gemeinschaften, Vereinen und Initiativen. Unsere Bürokratien haben jedoch nicht gelernt, mit lebensnahen Strukturen und Systemen der Bürger zu kooperieren. In Amerika ist die kommunale Ebene weit lebendiger und der „Staat“ kein Staat, in unserem Sinne.

Im Koalitionsvertrag steht Europa an erster Stelle. Sie haben damals im Bundesrat gegen die Euro-Einführung gestimmt…
Ich habe nicht grundsätzlich gegen den Euro gestimmt, sondern dagegen, dass Staaten aufgenommen wurden, die die Aufnahmekriterien nicht erfüllten. Bundestag und Bundesrat hatten den Deutschen diese Begrenzung versprochen. Das Dokument ließ ich vor der Abstimmung verteilen. Die Abgeordneten des Bundesrats sollten wissen, dass sie ihr Versprechen nicht einhalten. Denn auf ihm als Basis beruhte das Vertrauen der Bevölkerung, es werde schon gut gehen mit dem Euro.

Das Europa-Kapitel trägt zum großen Teil die Handschrift der SPD, die trotz ihrer Verhandlungserfolge in den Umfragen extrem schwach dasteht. Hat die SPD noch eine Zukunft?
Immerhin ist die Partei schon über 160 Jahre alt. Das Besondere an der SPD war und ist bis heute, dass es ihr gelang, die Erfahrungen des Proletariats zu überwinden und eine staatstragende Partei zu werden. Für Freiheit und Demokratie war es eine historische Leistung. Und sie hat wundervolle Politiker hervorgebracht, wie meinen Freund Georg Leber. Aber die Geschichte der SPD nähert sich jetzt dem Ende. Vielleicht wird in den kommenden Jahren eine neue, ganz andere sozialdemokratische Partei entstehen. Die alte SPD wird mahnen und erinnern. Als politische bewegende Kraft wird sie bald nicht mehr wirken.

Es ist nun eine neue Partei in den Bundestag eingezogen, die AfD. Die etablierten Parteien ignorieren sie bislang weitestgehend. Ist das richtig? Oder wird die AfD demnächst integriert werden?
Noch nicht, aber das ist im Gange. Sie können das Eins zu Eins mit den Grünen vergleichen. Dass die Grünen mit Blumen und Pullovern in den Bundestag zogen, war eine Provokation. Bei vielen Abgeordneten lösten sie damit Ablehnung und Abscheu aus. Aber bei einigen wenigen fanden sie Interesse und Aufmerksamkeit: „Die haben doch was“. In einer kooperativen Demokratie wie der unseren ist das kaum anders denkbar. Man sitzt zusammen im Parlament, hört sich zusammen die guten und die schlechten Reden an, und geht dann raus zum Kaffee und redet dort mit den Bekannten und den Neuen. Nach einer Weile wurden auch die Linken zunehmend integriert. Zum Schaden der Linken, weil sie dadurch immer selbstverständlicher wurden und sich nicht mehr demonstrativ als Opfer beschreiben konnten. Das wird bei der AfD ähnlich verlaufen. Sie wird nicht verschwinden, weil die Fragen, die sie jetzt stellt, Fragen sind, die sich jetzt tatsächlich stellen. Wenn in vier Jahren wieder Wahlen sind, ist die AfD vielleicht schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Und dann ist sie vielleicht auch brauchbar.

In welcher Hinsicht?
Wenn die AfD politisch brachliegendes Gelände in gewissem Umfang aufnimmt und Provokationen zurückstellt, wenn es ihr gelingt, sich wieder auf die Ideen der Sozialen Marktwirtschaft zu besinnen. Das könnte zu einer interessanten Entwicklung führen.

In jüngster Zeit mehren sich auch in der CDU die Vorwürfe gegen Angela Merkel. Sie hänge zu sehr an der Macht. Stimmt das?
Regieren ist ohne verfassungs- und rechtlich legitimierte Macht unmöglich. Über Macht wird vor allem von denen geklagt, die keine haben. Angela Merkel ist kein reiner Machtmensch, wie Kohl einer war. Sie kämpft um Macht, denn sie will regieren und gestalten. Dafür wurde sie gewählt. Sie auszuüben empfindet sie als ihre Pflicht. Obwohl es Konkurrenten geben könnte, hat bisher noch keiner den ernsten Versuch unternommen, ihr im Wettbewerb die Macht zu nehmen. Bis dahin wird sie nicht nur Deutschland, sondern auch Europa zu unserem und dem europäischen Wohl dienen. Und Henry Kissinger freut sich über das von ihm vermisste europäische Telefon.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%