
Am 17. November 2015 hat der Terror einen Sieg gegen unsere freie Gesellschaft errungen. Das Freundschaftsspiel zwischen der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und der niederländischen Auswahl wäre kein normales Aufeinandertreffen geworden. Es sollte ein Symbol gegen den Terror sein.
Die Spieler der deutschen Elf wollten zunächst nicht antreten, auch Bundestrainer Jogi Löw hatte seine Zweifel. Wer konnte ihnen das nur wenige Tage nach den Anschlägen von Paris verübeln. Auch sie waren ein Anschlagsziel im Pariser Stadion. In Hannover wollten sie dennoch spielen. Sie wollten dem Land und Europa zeigen, dass sich eine offene Gesellschaft, wie die unsere, nicht einschüchtern lässt.
Das bedeuten die Anschläge in Paris für Deutschland
Die Bundespolizei schickt verstärkt Einsatzkräfte an die Grenze zu Frankreich, intensiviert Streifen an Flughäfen und Bahnhöfen. Die Polizisten patrouillieren dort mit Schutzwesten und schweren Waffen. Verbindungen von und nach Frankreich werden besonders in den Blick genommen.
Nach einem Anschlag in einem Nachbarland setzt sich bei Polizei und Geheimdiensten in Deutschland hinter den Kulissen automatisch eine Maschinerie in Gang: Die Behörden checken, ob es mögliche Verbindungen und Kontakte der Täter nach Deutschland gibt. Sie sprechen dazu mit den V-Leuten in der Islamisten-Szene, durchforsten Foren und Netzwerke im Internet. Und sie überwachen besonders die islamistischen „Gefährder“ - also jene, denen sie einen Terrorakt zutrauen. Aber auch Rechtsextremisten, die auf die Anschläge reagieren könnten, stehen unter besonderer Beobachtung.
Belastbare Erkenntnisse dazu gab es zunächst nicht, aber einen ersten Verdacht: In Oberbayern wurde am Donnerstag vor einer Woche auf der Autobahn zwischen Salzburg und München ein Autofahrer angehalten und kontrolliert. Schleierfahnder der Polizei entdeckten im Kleinwagen des 51-Jährigen unter anderem mehrere Kalaschnikow-Gewehre, Handgranaten sowie 200 Gramm TNT-Sprengstoff. „Es gibt einen Bezug nach Frankreich, aber es steht nicht fest, ob es einen Bezug zu diesem Anschlag gibt“, sagt de Maizière. Auf dem Navigationsgerät des Mannes habe man eine Adresse in Paris gefunden. Ob das einen Zusammenhang zur Anschlagsserie bedeute, sei noch unklar. Der Verdächtige, der aus Montenegro stammt, sitzt in Untersuchungshaft.
Als Reaktion auf die Terroranschläge in Paris werden in Deutschland die Sicherheitsmaßnahmen hochgefahren. Es werde in den nächsten Tagen eine für die Bürger sichtlich erhöhte Polizeipräsenz geben, kündigte Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) am Samstagabend (14. November) in der ZDF-Sendung „Maybrit Illner Spezial“ an. „Die Polizei, die man sieht, wird auch etwas anders aussehen als bisher. Die Ausrüstung wird eine andere sein.“ Zugleich werde zusammen mit den Nachrichtendiensten die Beobachtung islamistischer Gefährder intensiviert.
Bislang gingen bei Polizei und Geheimdiensten etwa 100 Hinweise auf mögliche Terroristen ein, die auf diesem Weg ins Land gekommen sein sollen. Davon habe sich der Verdacht bisher aber in keinem einzigen Fall bestätigt, heißt es aus Sicherheitskreisen. „Aber man darf den IS nicht unterschätzen“, meint der Terrorexperte Rolf Tophoven. „Die Gefahr ist nicht auszuschließen. Unsere Sicherheitsbehörden können nicht jeden kontrollieren.“
Nach Einschätzung von Fachleuten dürften Terroristen eher auf anderem Weg versuchen, nach Deutschland zu kommen - etwa mit gefälschten Papieren im Flieger. Polizei und Geheimdienste beobachten allerdings, dass Islamisten versuchen, junge Flüchtlinge, die schon in Deutschland sind, zu rekrutieren. Generell gilt aber: Attentäter müssen nicht unbedingt von außen ins Land gebracht werden. Es gibt viele Fanatiker, die sich im Inland radikalisiert haben.
Mehr als 43.000 Menschen gehören insgesamt dazu. Die Szene ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen - vor allem durch den starken Zulauf bei den Salafisten, einer besonders konservativen Strömung des Islam. Rund 7900 Salafisten gibt es inzwischen. Polizei und Geheimdienste stufen viele Islamisten als gefährlich ein: Etwa 1000 Menschen werden dem islamistisch-terroristischen Spektrum zugeordnet. Darunter sind 420 „Gefährder“.
Zum Teil sind auch Rückkehrer aus Dschihad-Gebieten darunter. Diese machen den Sicherheitsbehörden große Sorgen, weil viele radikalisiert und kampferprobt zurückkommen. Von den mehr als 750 Islamisten aus Deutschland, die bislang Richtung Syrien und Irak ausgereist sind, ist ein Drittel wieder zurück - also rund 250 Leute. Etwa 70 davon haben Kampferfahrung gesammelt.
Zu dieser beispielhaften Demonstration von persönlicher und gesellschaftlicher Freiheit ist es nicht gekommen. Das Länderspiel wurde kurz vor Beginn abgesagt – „aus Gründen des Schutzes der Bevölkerung“, wie Bundesinnenminister Thomas de Maizière noch am gleichen Abend in Hannover erklärte – „bittere Gründe“. „Die Hinweise auf die Gefährdung des heutigen Fußballspiels haben sich im Laufe des Abends so verdichtet, dass wir nach Abwägung dringend empfohlen haben, dieses Länderspiel abzusagen.“
Der Innenminister war am gestrigen Abend ein ruhiger Mann. Er hat sachlich argumentiert, unaufgeregt. Die Bundesregierung wollte unbedingt, dass dieses Spiel stattfindet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und einige ihrer Bundesminister hatten sich angekündigt. De Maizière hat sich die Absage also garantiert nicht leicht gemacht. Dass er zu dem Schluss kam, es sei zu gefährlich, müssen wir respektieren. So abgedroschen, wie dieser Satz auch klingen mag – er bleibt richtig: Im Zweifel für die Sicherheit.





Für die Sicherheit heißt aber nicht für blindes Vertrauen. „Ich bitte die deutsche Öffentlichkeit um einen Vertrauensvorschuss“, sagte de Maizière bei der Pressekonferenz. Auf die genauen Hintergründe der Absage wollte er nicht eingehen. „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern“, sagte de Maizière. Ein verheerender Satz. Nichts beunruhigt mehr als zu wissen, dass es offenkundig eine reale Gefahr gegeben hat, die nun aus ermittlungstaktischen Gründen verschwiegen wird.
Dass der Innenminister seine Quellen nicht preisgeben kann und mag, ist nachvollziehbar. Das Problem ist nur: Die Informationen sickern ohnehin aus den Sicherheitskreisen durch. Medienberichten zufolge soll der französische Geheimdienst vor einem Bombenangriff gewarnt haben. Am Abend wurden um das Stadion herum Transporter durchsucht. Das erzählte ZDF-Sportmoderatorin Katrin Müller-Hohenstein am Abend live im Fernsehen. Auch der Übertragungswagen des TV-Senders wurde untersucht.
Dass wir die Wahrheit, was gestern Abend in Hannover passiert ist und was zur Absage des Spiels geführt hat, nur in Fragmenten erfahren, fördert die Unsicherheit. In den sozialen Netzwerken brechen sich die wildesten Verschwörungstheorien längst ihre Bahn. So richtig es war, dass der Bundesinnenminister das Spiel abgesagt hat – so falsch war seine Entscheidung, dass die Bevölkerung die Wahrheit nicht erfahren soll – womöglich, weil sie sie nicht verträgt.
Eine Lehre aus Paris ist: Der Terror ist in unserem Alltag gegenwärtig, nicht nur im Nahen Osten oder in den Vereinigten Staaten, sondern hier in Europa. Den Terroristen geht es darum, möglichst viele Menschen zu töten und Angst und Schrecken zu verbreiten. Die Bevölkerung muss nun lernen, mit dem Terror in ihrem Leben umzugehen. Und womöglich werden wir noch häufiger erleben, dass Fußballspiele oder andere Großveranstaltungen abgesagt werden. Wir müssen darauf vertrauen, dass Polizei und Sicherheitsbehörden in unserem besten Sinne handeln, um Tote zu verhindern.
Wir müssen aber nicht auf ihr Allwissen vertrauen und dürfen nicht aufhören, Fragen zu stellen. Wer wollte mit welchen Mitteln einen Anschlag auf das Fußballspiel in Hannover verüben? Auf diese Frage verdienen wir eine Antwort. Wenn der Terror am gestrigen Abend schon gewinnen musste, sollten wir zumindest erfahren, weshalb das nötig war. Die Deutschen und Europäer vertragen diese Wahrheit.