Das Bild, das von der Zukunft der deutschen Kleinstädten in den Neunzigern gemalt wurde, kam einem Abgesang auf die Kleinstädte gleich, sagt Peter Dehne. „Das Bild war düster und schwarz: keine Geschäfte, schlechte Infrastruktur, keine Menschen wollen dort leben." Dehne forscht als Professor für Planungs- und Baurecht an der Hochschule Neubrandenburg im Bereich der Stadt- und Regionalplanung. Kürzlich untersuchte er in einem Forschungsprojekt die Lage von Kleinstädten in peripheren Lagen und wie diese in ihrer Weiterentwicklung gefördert werden können. Ihm begegnete dabei ein ganz anderes Bild der deutschen Kleinstädte. „Wir leben hier gerne“, war die Botschaft, die ihm die Kleinstädter mitgaben. „Und auch die ökonomische Situation ist vielerorts gar nicht so schlecht“, erklärt Dehne.
Die Kleinstadt erlebt eine Renaissance. Statt in der Großstadt teure Mieten zu zahlen und zur Erholung am Wochenende aufs Land zu fahren, suchen sich mehr Deutsche gleich eine Wohnung oder gar ein Haus außerhalb der Großstadtgrenzen – in den Klein- und Mittelstädten der Republik. „Es ist eine positivere Grundeinstellung zu sehen als vor zehn oder fünfzehn Jahren“, sagt Dehne.
Erst kürzlich präsentierten die Bertelsmann-Stiftung und das Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS) gemeinsam eine Studie mit dem Titel „Trend Re-Urbanisierung?“. In der Zehn-Jahres-Analyse kamen die Forscher zu dem Fazit, dass es viele Menschen in kleine und mittlere Städte ziehe. Das urbane Leben in der Großstadt sei zwar weiter gefragt, aber eben nicht nur. Das bestätigt auch eine aktuelle Auswertung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). 282 der 401 Kreise und kreisfreien Städte haben demnach zwischen 2010 und 2016 an Bevölkerung gewonnen. Viele Menschen zog es in die Großstädte und deren Umgebung, aber auch die Hälfte der ländlichen Städte und Gemeinden gewannen in dieser Zeit laut dem BBSR Einwohnern dazu.
Definition von Städten und Gemeinden
Der Begriff, der aus dem altgriechischen kommt und zu deutsch „Mutterstadt“ bedeutet, hat keine politische oder verwalterische Relevanz. Gemeinhin wird die Bezeichnung Metropole für eine Großstadt benutzt, die den wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Mittelpunkt einer Region oder eines Landes bildet.
Eine Gemeinde gilt als Großstadt, wenn sie mindestens 100.000 Einwohner hat.
Wohnen in einer Stadt rund 20.000 bis 100.000 Menschen, spricht man von einer Mittelstadt.
Mindestens 5000 Menschen muss ein Ort haben, um als Kleinstadt zu gelten. Bei der Begrenzung nach oben variieren die Angaben der Experten. Sie ziehen die Grenze bei 20.000 oder 25.000 Menschen.
Eine Gemeinde kann ein Dorf oder ein Zusammenschluss aus Dörfern und Kleinstädten sein. Definiert sind Gemeinden (oder Kommunen) als die unterste Stufe in der politischen Gliederung. Eine Gemeinde besitzt – vergleichbar zu einer Stadt – das Recht zur Selbstverwaltung.
Ohnehin täuscht der schon lange anhaltende Boom der Großstädte über eines hinweg: Deutschland ist ein Land der Kleinstädte. 2000 sind es insgesamt in der Bundesrepublik, etwa 900 davon in peripheren Lagen, sprich fern der großen Städte. Fast zwei Drittel aller Einwohner Deutschlands leben laut BBSR in Klein- und Mittelstädten, mehr als die Hälfte arbeitet dort.
Eine neue Wertschätzung der Kleinstädte
Der offensichtlichste Grund für die Landlust der Deutschen: günstigere Immobilienpreise. In den Großstädten ist Wohnraum für viele kaum noch bezahlbar. „Viele gehen raus, weil sie sich das Leben in der Großstadt einfach nicht mehr leisten können oder wollen“, sagt Städteplanerin Bärbel Winkler-Kühlken vom Berliner Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik. „Andere entscheiden sich aber bewusst für einen neuen Lebensstil.“ Dazu gehören die Ruhe auf dem Land, die Nähe zur Natur, das stärkere Gemeinschaftsgefühl – aber auch weniger offensichtliche Dinge. „Die Kleinstadt hat viele Vorteile gegenüber der Großstadt“, sagt Winkler-Kühlken. „Sie ist überschaubar, bietet mehr Potenziale sich aktiv in die Stadtentwicklung einzubringen, man ist viel näher an der Verwaltung dran, kann Wünsche äußern und Vorstellungen besser einbringen.“
Besonders häufig treibe es Menschen aufs Land, die in der Kleinstadt aufwuchsen und nach Jahren oder Jahrzehnten in der Großstadt die Sehnsucht nach der Ruhe und Beschaulichkeit aus Kindheits- und Teenagertagen verspürten, sagt Dehne. Vor allem viele Familien überlegten, wo sie gemeinsam leben können, und hielten vermehrt in ihrer Heimatregion Ausschau.
Diese neue Wertschätzung und die besonders deutliche Zufriedenheit der Kleinstädter hat selbst die Forscher Dehner und Winkler-Kühlken bei ihren jüngsten Untersuchungen im vergangenen Jahr überrascht. Beide machten großangelegte Analysen in den unterschiedlichsten deutschen Kleinstädten, führten Gespräche mit vielen Kleinstädtern – und beiden schlug dabei eine große Begeisterung für das Leben in der Kleinstadt entgegen. Bei Haushaltsbefragungen erhielten alle Kleinstädte gute Noten in den Kategorien Zufriedenheit in der Stadt oder sozialem Zusammenhalt. „Alle – egal wie unterschiedlich die Lage und die jeweiligen Bedingungen in den Kleinstädten waren – die Zufriedenheit war enorm hoch“, beschreibt es Winkler-Kühlken. Sie spricht von einer „neuen Wertschätzung für das Kleinstadtleben“.
Urbanität ist auch auf dem Land gefragt
Doch die Experten warnen die Kleinstädte davor, sich auf ihrer neuen Attraktivität auszuruhen. Noch ist das Gespenst der Neunziger nicht gebannt. „Die jetzige kleine Suburbanisierung, die die Kleinstädte für sich nutzen, wird nicht immer so weitergehen“, warnt Winkler-Kühlken. Sie sieht Bürger, Unternehmen und die Politik in den Kleinstädten in der Pflicht, gemeinsam Projekte anzustoßen, die die Ortschaften dauerhaft attraktiv und lebenswert machen.
An Anreizen wie Arbeitsplätzen mangelt es den Experten zufolge meist nicht. Qualifizierte Jobs gibt es durchaus auch in den ländlichen Regionen. Viele Kleinstädte haben sogar eine große Zahl von Einpendlern – alles potenzielle Neubürger, wie Dehne betont. Die Herausforderungen sind andere – etwa der demografische Wandel und der Wunsch der Bürger nach städtischen Lebensbedingungen auch auf dem Land. „Viele suchen Städte, in denen trotz allem eher eine gewisse Urbanität gegeben ist.“
Konkret bedeutet das vor allem eine gute Nahversorgung durch Supermärkte, Ärzte und Ähnliches. Seien es Bio-Laden, Cocktailbar, Bäcker oder die Kneipe, in der man sich trifft. Hinzu kommen Kitas und Schulen, sowie kulturelle Angebote „Das sind sicher ganz entscheidende Punkte, um als Kleinstadt spannender zu sein“, sagt Dehne. Auch das Stichwort Breitbandausbau fällt immer wieder, wenn es um Mankos des Kleinstadtlebens geht. Längst nicht alle Kleinstädte verfügen ein gutes Handynetz oder Glasfaser für den schnellen Internetanschluss zuhause.
Wer es hingegen schafft, für Neubürger attraktiver zu werden, setzt eine Bewegung in Kraft, die die ganze Stadt fördert – da herrscht Einigkeit bei den Stadtentwicklungsforschern. Mehr Einwohner, mehr Geld, mehr Engagement – all das kann mehr Lebensqualität für alle bringen. So könnten auch die Städte Neubürger anlocken, die bislang nicht von der Stadtflucht profitierten.
Dazu ist aber Hilfe von Nöten. Deshalb appellieren sie auch für mehr (politische) Unterstützung. Winkler-Kühlken fordert deshalb: „Es müsste so etwas wie eine Kleinstadt-Agentur oder Kleinstadt-Lotsen geben.“ Die Best-Practice-Ansätze, die Kleinstädte über die ganze Bundesrepublik verteilt entwickelt haben, könnten in so einer Organisation gesammelt, gebündelt und verbreitet werden. Kurz gesagt: ein Austauschprogramm für Deutschlands Kleinstädte.
Für Dehne mangelt es vor allem an Förderprogrammen, die konkret auf die Bedürfnisse kleiner Städte zugeschnitten sind. Programme gebe es zwar, die seien aber häufig zu kompliziert für kleinstädtische Verwaltung. Den Antrag korrekt zu stellen und alle Auflagen zu erfüllen sei häufig schon eine unüberwindbare Hürde. Würden in den Förderprogrammen die begrenzten Möglichkeiten der Kleinstädte bedacht, wäre der Zugang für die Gemeinden einfacher.
Die Liebe zur Kleinstadt lebt – und wächst sogar. Ein guter Grund, sich für die Tausenden Kleinstädte im Land einzusetzen, damit sie die Wünsche und Hoffnungen der (potenziellen) Neubürger auch erfüllen können. Wenn das gelingt, wird die Kleinstadt nicht den Tod sterben, der ihr in den Neunzigern vorhergesagt wurde.