Wahlsiegerin als stärkste Kraft
Vor der Freude kommt die Schadenfreude. Als um 18.01 Uhr der schwarze Balken nicht weiter anschwillt als bis zur Marke von 26 Prozent, da jubeln die nordrhein-westfälischen SPD-Anhänger, die sich in der Düsseldorfer Diskothek „3001“ versammelt haben, als würde es ihren Sieg bedeuten, obwohl sie noch gar nicht wissen, wie viele Stimmen ihre Partei erhalten hat. Eine Viertelstunde später, als zwar der Sieg der SPD schon absehbar, aber von der strahlenden Siegerin Hannelore Kraft noch nichts zu sehen ist, ist es CDU-Spitzenkandidat Norbert Röttgen, der sie zum Jubel reizt. In verknoteten Sätzen erklärt er, dass die Niederlage auf seine Kappe gehe, er kündigt seinen Rücktritt als Landesvorsitzender an. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“ johlen die Sozialdemokraten.
Der Triumph an diesem Sonntag ist so vollkommen, dass in Düsseldorf viele Gewohnheiten fahren gelassen werden, die sonst üblich sind. Auf keinen potenziellen Koalitionspartner muss hier Rücksicht genommen werden, keine Zweideutigkeiten lauern zwischen den Zahlen. Die SPD erreicht fast 40 Prozent, die CDU kommt nur auf ein gutes Viertel der Wählerstimmen.
Die 12 Prozent der Grünen vollenden den Sieg der parlamentarischen Linken. Es sind klare Verhältnisse, wie man sie längst für unmöglich gehalten hatte. Der kleine Erfolg der FDP, die mit acht Prozent der Stimmen im größten Bundesland eine Art Wiederauferstehung erlebt, geht fast unter. Die Stimmen der Piraten jenseits der fünf Prozent erst recht.
Wer soll diese Jubelwelle aufhalten? Nur Kraft selbst
Wo keine Interpretation nötig ist, das zeigt sich schnell, da wendet sich auch die Rolle der Spitzenkandidatin ins Gegenteil. Nach Wochen des Anstacheln und Aufwiegelns muss Hannelore Kraft heute bremsen. Muss alles tun, um sich nicht mitreißen zu lassen von der Begeisterung um die eigene Person. Ihr Auftritt an diesem Abend ist daher zweierlei: verzögert und gehemmt.
Eigentlich sollte Kraft um 18.20 Uhr bei den Parteifreunden erscheinen, zehn Minuten später dann atmet sie endlich tief durch und erklimmt die Bühne. Der Jubel haut sie förmlich um. „NRW im Herzen steht an der Wand“ und Kraft ist tatsächlich ergriffen, sucht erst ihre Mutter, die am Rande der Bühne steht. Dann ergreift sie die Hand ihres Ehemannes, schmiegt sich danach an ihren Sohn, beide sind mit ihr auf die Bühne gestiegen. Dann die ersten Worte: „Was für ein toller Abend.“ Das Parteivolk jubelt, wie von jetzt an nach jedem Satz.
Es folgt eine kurze Ansprache, ein artiger Dank an alle, denen man am Wahlabend so zu danken hat. Ein Gruß nach Berlin, kein Wort über die Gegner, warum auch. Dann muss sie in den Landtag, das Fernsehen wartet. „Aber ich komme wieder und dann feiern wir zusammen.“ Erneut brandet Jubel auf, Sprechchöre mischen sich darunter. „So sehen Sieger aus“, rufen die Leute vor der Bühne, auf der Bühne klatscht wie wild Hannelore Krafts erster Fan, ihr Sohn Jan.
Wer soll diese Jubelwelle aufhalten? Es ist Kraft selbst, die das schließlich in die Hand nimmt. In die Klatschbewegung greift sie dem Sohn, zieht in von der Bühne. „Is' gut jetzt“, wären wohl die Kraft-Worte zur Geste. Sie verschwindet wortlos. Während die Wahlsiegerin unterwegs ist, überlegen Moderator und Gäste im Saal, mit welchem Lied sie bei ihrer Rückkehr empfangen werden könnte. „You're Beautiful“ lautet der Titel, für den sie sich schließlich entscheiden.
So grandios der Sieg ausgefallen ist, Krafts erste und vielleicht schwierigste Aufgabe wird es sein, ihn so zu erden, wie sie Partei und Koalition durch zwei Jahre Minderheitsregierung und einen höchst erfolgreichen Wahlkampf dirigiert hat: mit dem Blick für Realitäten.