Landtagswahlen 2016 Die verwirrte Republik

AfD klarer Sieger, Volksparteien klare Verlierer: Wir sind in eine neuen Parteiendemokratie angekommen. Das ist demokratisch nicht unbedingt schlecht, aber eine Herausforderung für uns Bürger.

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Die AfD ist Mittendrin, zumindest ist den Landtagen Baden-Württembergs, Rheinland-Pfalz' und Sachsen-Anhalts. Quelle: Getty Images

Was hatte man nicht alles erwartet von diesen Landtagswahlen? Als ein „Referendum“ waren sie angekündigt, einer Art Urabstimmung über die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel, einer Neuorientierung der Bundesrepublik, die sich seit Monaten in Rage redet wie selten zuvor. Nach diesen Maßstäben sind die Ergebnisse der Abstimmungen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt eine riesige Enttäuschung. Denn ein Referendum bringt ja normalerweise vor allem eines: Klarheit.

Für diesen Sonntag gilt aber vor allem ein Satz: Die Urnen sind ausgezählt, doch viele Fragen offen. So gut wie alle Parteien können auf Licht und Schatten verweisen. Doch wer nach der einen großen Lehre sucht, tappt erst einmal im Dunkeln.

Die Kanzlerinnenpartei CDU hat in allen drei Ländern dicke Verluste erlitten, auch wenn sie in Sachsen-Anhalt weiter den Ministerpräsidenten stellen wird (und in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Mitglied der Regierungskoalition bleiben könnte). Doch ist dies auch ein Denkzettel für Merkel und ihr „Wir schaffen das?“

Reaktionen aus den Ländern
Björn Höcke, AfD Quelle: REUTERS
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner: Quelle: dpa
Ralf Stegner, SPDSPD-Vize Ralf Stegner erwartet ungeachtet des schwachen Abschneidens bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt keine Diskussion über Parteichef Sigmar Gabriel. "Nein, kein Stück", sagte Stegner am Sonntag in der ARD. "Wir werden jetzt gemeinsam schauen, dass wir jetzt die nächsten Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin gut machen und im nächsten Jahr im Bund. Und der Rückenwind aus Mainz wird uns dabei helfen." In Rheinland-Pfalz sind die Sozialdemokraten stärkste Partei geworden. Zum Erfolg der rechtspopulistischen AfD sagte Stegner: "Die AfD hat mit Angstmacherei Punkte gemacht. Wir rücken nicht nach rechts." Quelle: dpa
Alexander Gauland, AfD Quelle: dpa
Sigmar Gabriel, SPD Quelle: REUTERS
Frauke Petry, AfD Quelle: AP
Katrin Budde, SPD Quelle: REUTERS

Das werden ihre Kritiker durchaus so sehen. Ihre Unterstützer hingegen dürften darauf verweisen, dass die unterlegenen CDU-Spitzenkandidaten sich von deren Flüchtlingskurs distanziert hatten – während der Grüne Winfried Kretschmann, der gesagt hatte, er bete in der Flüchtlingskrise jeden Tag für die Kanzlerin,  einen Triumph einfuhr. Merkel wird erst einmal weiter machen könne, schon mangels Führungsalternativen in ihrer Partei.

Die SPD erinnert am Wahlabend an Schalke 04 in seinen bewegtesten Jahren – als die Knappen es fertig gebrachten, bei einem Sieg im Ruhrpott-Derby gegen Borussia Dortmund eine gelungene  Saison zu verbuchen, selbst wenn man an deren Ende absteigt. Der (sehr persönliche) Triumph von Malu Dreyer in Rheinland-Pfalz versetzte die Sozialdemokraten in Euphorie, obwohl sie in anderen Bundesländern auf dem Weg fort von der Volkspartei ist. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel wird weitermachen können, aber weiterhin eher, weil kein anderer Genosse seinen Job will.

Die neue allgemeine Verwirrung frisst sich aber bis in das Lager der scheinbaren Sieger. Die Grünen stellen zum ersten Mal die stärkste Partei in einem Bundesland, Ministerpräsident Kretschmann ist in papstähnliche Sphären entrückt. Doch das Abschneiden der Partei in den restlichen Bundesländern offenbart, wie persönlich dessen Sieg war.

 

FDP mit einem Comeback

Und die FPD scheint auf dem Weg zu einem Comeback und einer (alten) neuen Rolle als Königsmacherin. Doch ist ihr Abschneiden wirklich Ausdruck einer neuen Sehnsucht nach einem modernen Liberalismus? Oder nutzte Parteichef Christian Lindner geschickt die Gelegenheit, sich vom oft als idealistisch empfundenen Flüchtlingskurs der Kanzlerin und der scheinbaren Sozialdemokratisierung der Großen Koalition abzusetzen? Und: Wird dieser Trend anhalten, sollte die Flüchtlingskrise weniger wichtig werden?

Schließlich: die Alternative für Deutschland (AfD), sensationeller Wahlsieger, aber deswegen schon eine neue Volkspartei? Was geschieht, wenn sich bei der Parlamentsarbeit herausstellt, dass es nicht nur reicht, Probleme zu benennen statt Lösungen anzubieten?

So scheint sicher nur eine Lehre: unser altes Denken im herkömmlichen Parteienstaat, das nicht nur die Bonner Republik, sondern auch die Berliner Republik so lange prägte, gehört der Vergangenheit an. Eine Große Koalition besteht nicht mehr automatisch aus den beiden großen Volksparteien, aus Union und Sozialdemokraten. Und bei der (in den Ländern möglicherweise langwierigen) Koalitionssuche werden wir uns an ganz neue Konstellationen gewöhnen müssen.

Deutschland holt damit nach, was sich in Staaten, die früher und heftiger von der Euro-oder Finanzkrise gebeutelt  – in anderen EU-Mitgliedsländern, aber auch in den USA - bereits seit längerem abzeichnet: ein Trend zu einer weiteren Zersplitterung der Parteien, einer greifbaren  Unsicherheit, oft gepaart mit Ängsten vor neuen Verteilungskämpfe. Und auch das: ein rauerer Ton im politischen Umgang und mehr Raum für die scheinbar simplen Lösungsangebote der Populisten.  

 

Das ist nicht per se schlimm, es kann sogar zu mehr Demokratie führen. Die Wahlbeteiligung bei diesen Landtagswahlen lag deutlich höher als vor fünf Jahren. Darin spiegelt sich die Renaissance der

politischen Debatte hierzulande in den vergangenen Monaten – in der Öffentlichkeit, oft aber auch am heimischen Küchentisch.

Es kann aber schlimm werden, wenn sich der Umgang mit dieser neuen Verwirrung mit Hysterie paart, wie sie leider in den vergangenen Monaten in Deutschland oft zu beobachten war. Wie groß das Konfliktpotential ist, zeigt sich, wenn mehr als die Hälfte der Landtagswähler als Hauptangst angeben, der Einfluss des Islam werde zu stark oder die Kriminalität steige weiter. Dieser neuen Verwirrung mit Augenmaß zu begegnen, ist nicht allein Aufgabe der Medien, der Volksparteien, auch nicht der neuen Bewegungen wie der AfD: Es ist Aufgabe von uns allen, den Bürgern.

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