Jürgen Thumann, früherer Präsident des BDI, hat Mitleid. Mitleid mit Philipp Rösler. „Die FDP hat ihn doch gekannt, als sie ihn zum Vorsitzenden wählte“, kritisiert der Industrielle. Und doch, gesteht er, von den Liberalen werde „allein Brüderle“ in Wirtschaftskreisen akzeptiert. Bayerns Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber berichtet von Dax-Vorständen, die Gespräche beim Wirtschaftsminister ablehnten, „solange da solche Leute wie Rösler sitzen“. Und Hans Michelbach, Unternehmer und CSU-Bundestagsabgeordneter, bescheinigt Rösler zwar, dass „alles richtig“ sei, was er sage, „aber wenn er auftritt, kommt er wie ein Praktikant rüber“. Gegenüber „gewachsenen Managern und Unternehmern“ sei nur der Fraktionsvorsitzende Rainer Brüderle satisfaktionsfähig. Das habe er gerade wieder bei einer Veranstaltung erlebt. „Brüderle könnte die FDP schon hochreißen.“
Und Rösler? Reagiert so, wie es ihm seiner Gegner vorwerfen und inzwischen sogar Vertraute nachsagen: Er führt nicht, er kämpft nicht. Oft haben sie ihm geraten, energischer aufzutreten – vergebens. In seiner Rede beim Stuttgarter Dreikönigstreffen trug Rösler den wichtigsten Satz seines Manuskripts gar nicht vor: „Was ich nicht akzeptieren kann, ist, wenn durch Profilierungssucht Einzelner dieser Erfolg in Niedersachsen für uns alle gefährdet wird.“ Statt der deutlichen Ermahnung forderte der FDP-Vorsitzende mit bergpredigthafter Geduld etwas mehr Geschlossenheit – und das, nachdem ihn sein Vorredner und Kabinettskollege Dirk Niebel auf offener Bühne gerade zum Rückzug aufgefordert hatte. Verwundert registrierte CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt den laschen Auftritt: „Will der nicht mehr? Der muss doch wissen, welches Signal er damit in seine Partei sendet.“
Die öffentliche Wirkung ist inzwischen vielleicht Röslers Hauptproblem: Lange nutzte er die Energiewende nicht, um sich als Kämpfer zugunsten niedriger Strompreise für Bürger und Betriebe zu profilieren. Kurz nach Weihnachten präsentierte Rösler ein marktwirtschaftliches Grundsatzpapier, in dem er die Privatisierung von Staatsbeteiligungen forderte – just wenige Tage, nachdem auch er den Einstieg des Bundes bei EADS durchgewinkt hatte. Beim Mindestlohn, ereifern sich führende Parteifreunde, sei er auf harsche Positionen zurückgefallen, während die Partei intensiv nach einer liberalverträglichen Lohnuntergrenze suche (um damit Angriffe der Opposition auf die vermeintlich kaltherzigen Liberalen zu unterbinden).
Die Landtagswahl in Röslers Heimat hat seine Partei deshalb zur Entscheidung über den Chef hochgejazzt. Scheitern die Liberalen an der Fünf-Prozent-Hürde, muss er zurücktreten. Das weiß auch Rösler. Sechs Prozent, sieben Prozent müsse er schon bringen, forderten die liberalen Fallensteller ein. Weil sie selbst zu feige zum offenen Angriff sind, hoffen sie auf Exekution durch den Wähler. „Eigentlich ist Rösler nicht mehr zu retten“, sagt ein CDU-Ministerkollege, der ihn – wie fast jeder – menschlich schätzt. „Aber es war natürlich ein Fehler seiner Gegner, den Verbleib im Amt an ein bestimmtes Wahlergebnis zu ketten.“
Deshalb verbreitet das Rösler-Lager, wichtiger als hohe Prozentzahlen sei es, in Hannover weiter mitzuregieren. Dazu könnte nämlich schon der Sprung knapp über die Fünf-Prozent-Hürde reichen. Und dann, so sein Kalkül, gehe die Debatte nicht mehr um ihn, sondern über die Fortsetzung der schwarz-gelben Koalition auch im Bund. Der Wiederaufstieg der Freidemokraten sei dann eingeleitet.
Von langer Hand geplant
Das sieht Entwicklungsminister Dirk Niebel ganz anders. Er hält einen Stimmungswechsel auf Bundesebene mit Parteichef Rösler für ausgeschlossen. Aber: „Nach der Wahl in Niedersachsen wird eben kein Automatismus einsetzen, den Vorsitzenden abzulösen“, fürchtet einer von Niebels Mitstreitern. „Deshalb haben wir im November beschlossen: Wir müssen handeln, wir müssen vor der Niedersachsen-Wahl stärker schießen.“ Entsprechend feuerte der Kabinettskollege nicht nur eine ganze Salve kritischer Interviews ab, sondern attackierte auch beim Dreikönigstreffen. „Mutti braucht ein Brüderle“, heißt nun der Schlachtruf aus dem Niebel- Lager.
Streitthema Bildung - das wollen Niedersachsens Parteien
500 Euro zahlen Studierende pro Semester an Niedersachsens Hochschulen. Die CDU will, dass das so bleibt. Ginge es nach den Liberalen, dürften die Unis bis zu einer Obergrenze je nach Studienfach selbst festlegen, wie viel das Studium kosten soll. SPD und Grüne dagegen wollen die Gebühren spätestens Ende 2014 abschaffen. Die Linke will das Gratis-Studium ab sofort und für alle. Auch die Piraten sind gegen Gebühren.
SPD, Grüne, Linke und Piraten wollen das Abi nach 13 Jahren zurück. Wer die Reifeprüfung schon nach 12 Jahren ablegen will, soll die Möglichkeit dazu auf dem Gymnasium bekommen. CDU und FDP bleiben dabei, dass 12 Schuljahre ausreichen.
Seit 2008 dürfen in Niedersachsen wieder integrierte Gesamtschulen gegründet werden - aber nur, wenn sie andere Schulformen nicht ersetzen und es in jeder Stufe mindestens fünf Parallelklassen gibt. SPD, Grüne, Linke und Piraten wollen auch kleinere Gesamtschulen erlauben.
Der neue Schultyp ist aus CDU- und FDP-Sicht ein großer Erfolg. Oberschulen können mit oder ohne Gymnasialangebot geführt werden. Auch SPD, Grüne und Piraten wollen die Oberschule erhalten, wo Eltern und kommunale Schulträger das wünschen. Die Grünen fordern aber, dass jede Schule einen Weg zum Abitur offenhalten muss.
Alle Parteien sind für den Ausbau. Die CDU setzt vor allem auf den teilgebundenen Ganztag mit verpflichtenden Angeboten an zwei Nachmittagen. Die SPD will nach und nach alle Schulen zu gebundenen Ganztagsschulen ausbauen und ist sich dabei mit den Grünen und den Linken einig. Die FDP will den gebundenen Ganztag vom Willen der Eltern, Schüler und Lehrer abhängig machen.
Ab August 2013 gibt es den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz. SPD, Grüne und Linke werfen den CDU und FDP vor, nicht genug Tempo beim Krippenausbau zu machen. Sie befürchten in einigen Regionen eine Klagewelle gegen die Kommunen. Derzeit ist das dritte Kindergartenjahr kostenlos. Piraten und Linke fordern beitragsfreie Kitas.
Unterstützung bekommt Niebel vom Vorsitzenden des Liberalen Mittelstands: „Die FDP ist die Partei der Marktwirtschaft und der Effizienz – und drei Prozent sind nicht effizient“, kritisiert Thomas Kemmerich. Eine neue Führung müsse her. „Rösler muss selbst erkennen: Ich bin im Moment außer Form, also wechsle ich mich aus. Das verlange ich im Unternehmen, das muss ich auch in meiner Partei verlangen“, sagt der Inhaber einer Kette von Friseursalons. Das sage nichts über Röslers menschliche Qualitäten, nur für die Führung einer Partei reiche es eben nicht. Kemmerich: „Das ist das alte Peter-Prinzip: Die Leute werden bis auf ein Niveau hochgetragen, auf dem sie nicht mehr richtig eingesetzt sind.“
Intern haben die Frondeure alles organisiert. Sollte Rösler nicht freiwillig aufgeben, sei Brüderle sogar zu einer Kampfkandidatur bereit. Da der allseits gewünschte Nachfolger an der Parteispitze nicht wieder ins Wirtschaftsministerium zurückkehren kann, soll der Unternehmer und Ex-DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun das für die FDP so wichtige Ressort übernehmen. Freilich zittern die Verschwörer, ob Braun bei seiner Bereitschaft bleibt, nachdem die Absprache bekannt geworden ist. Er selbst möchte sich zu den „Gerüchten“ nicht äußern. Sogar an Details haben die Rösler-Gegner gedacht. So klärten sie vor der Verpflichtung des neuen Parteisprechers zum Jahreswechsel, ob der auch unter dem Vorsitzenden Brüderle weiterarbeiten könnte.
Beim Dreikönigsball der Liberalen in Stuttgart, am Vorabend der denkwürdigen Kundgebung, trat ein Joe-Cocker-Double auf. Die Gäste konnten Karten für den Auftritt des Originals gewinnen.
Bei der Niedersachsenwahl verhält es sich mit Rösler und Brüderle ganz ähnlich.