Lebensqualität in Deutschland Die Bundesregierung simuliert den Dialog

Der „Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland“ ist weder politischer Kompass noch Handlungsauftrag. Vielmehr war der „Bürgerdialog“, auf dem er fußt, vor allem ein PR-Instrument.

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Angela Merkel und Bürger beim Bürgerdialog

Natürlich wollen so gut wie alle Deutschen vor allem Sicherheit und Frieden. Diese Werte, die die Bundesregierung in ihrem heute vom Kabinett beschlossenen Bericht „Gut leben in Deutschland - was uns wichtig ist“ als meistgenannte Bedingungen der Deutschen für „Lebensqualität“ herausstellt (neben der Höhe des Gehalts!), können niemanden überraschen. Aus verschiedenen anderen Umfragen, zum Beispiel aus dem Eurobarometer, ist bekannt, dass den Deutschen Frieden noch wertvoller ist als allen anderen europäischen Nationen. Die Erfahrungen der eigenen Geschichte dürften dafür ausschlaggebend sein.

Und Sicherheit? Ist das nicht fast dasselbe, nämlich Abwesenheit von Bedrohungen und Gewalt im persönlichen Alltag?

Interessanter als die Ergebnisse im Einzelnen, sind die Umstände der Entstehung dieses Dokuments. Es ist nämlich das Ergebnis, sozusagen die Zusammenfassung des "Bürgerdialogs". Im Koalitionsvertrag hatten SPD und Union 2013 beschlossen, das schon in der Vorgängerkoalition geübte Verfahren auszuweiten, um „unser Regierungshandeln stärker an den Werten und Zielen der Bürgerinnen und Bürger aus[zu]richten“. Diese Werte und Ziele sollten das „Verständnis von Lebensqualität“ der Bürger ergründen.

Wovor die Deutschen Angst haben
Zusammenbruch des StromnetzesSechs Prozent der Deutschen machen sich große Sorgen um Stromausfälle. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die das Institut für Demoskopie Allensbach und das Centrum für Strategie und Höhere Führung für die Deutsche Telekom durchgeführt hat. Generell ist die Bevölkerung demnach derzeit so besorgt um ihre Sicherheit wie in keinem der vorangegangen fünf Jahre. Quelle: DPA
Verkehrsunfälle Der Umfrage zufolge machen sich 14 Prozent der Befragten Gedanken, in einen Verkehrsunfall verwickelt zu werden. Befragt wurden rund 1.500 Personen aus einem repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung ab 16 Jahre im August dieses Jahres. Quelle: DPA
Spionage15 Prozent der Befragten gaben an, sich Sorgen darüber zu machen, dass andere Staaten wie die USA oder China die deutschen Bürger zu sehr überwachen, indem sie etwa ihr Telefon oder die Internetverbindung ausspionieren. Quelle: DPA
DigitalisierungNoch mehr beunruhigt die Deutschen, dass man durch die Digitalisierung von Computern abhängig ist. 16 Prozent gaben an, sich darüber große Sorgen zu machen. Quelle: DPA
ÜberwachungMehr als vor Spionage im Ausland fürchten sich die Befragten davor, dass der deutsche Staat seine Bürger zu sehr überwacht. 16 Prozent legten bei den persönlichen Interviews diese Karte auf den Stapel: große Sorgen. Quelle: DPA
Radioaktive VerstrahlungOffenbar nimmt die Energiewende den Deutschen die Angst: Auch wenn immer noch 17 Prozent Sorgen vor einem Unfall in einem Kernkraftwerk haben, gehen doch immerhin 45 Prozent davon aus, dass dieses Risiko in Zukunft weniger wird. Nur 23 Prozent glauben, es steigt. Quelle: DAPD
ArbeitslosigkeitDass nur 19 Prozent der Bevölkerung sich Gedanken darum macht, in Zukunft den Arbeitsplatz zu verlieren, führen die Autoren der Studie auf die robuste Konjunkturlage in Deutschland zurück. Vor drei Jahren waren es noch 25 Prozent. Quelle: DPA

Zwischen April und Oktober 2015 fanden über die Republik verteilt 203 Bürgerdialoge statt, 50 davon mit Mitgliedern der Bundesregierung, einige auch mit der Kanzlerin. Zusätzlich konnten Bürger per Internet ihre Ansichten äußern. Aufsehen erregte vor allem die Veranstaltung der Kanzlerin vom 14. Juli 2015 in Rostock, bei der sie einem weinenden libanesischen Mädchen zunächst erklärte, warum nicht jeder Asylbewerber bleiben dürfe, um sie dann zu streicheln und zu trösten.

Von diesem Moment abgesehen, zeichneten sich Bürgerdialoge kaum durch Kontroversen aus. Das liegt vermutlich nicht zuletzt an der Auswahl der Teilnehmer. Denn diese geschah durch „eine Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen“, wie es im Bericht heißt, so „zum Beispiel das Bundeswehrsozialwerk, die Arbeiterwohlfahrt, Gewerkschaften, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag oder die Landfrauen“. Außerdem Kirchen, Religionsgemeinschaften, Volkshochschulen. Mit anderen Worten: Die Gefahr, dass sich entschiedene Kritiker der Regierung vor Ort laut äußerten, wurde minimiert.

Weder politikverdrossene Nichtwähler, die sich sozial abgehängt fühlen, noch AfD-wählende „Wutbürger“ dürften sich in nennenswerter Zahl auf den Veranstaltungen befunden haben. Zumindest finden sich ihre Ansichten nirgendwo im Bericht.

Eher affirmativ als kritisch

Dass der Bürgerdialog und vor allem der jetzt präsentierte Bericht kein grundsätzliches kritisches, sondern ein eher affirmatives Bild zeichnen würde, liegt in der Natur der Sache. Berichte, die mit dem Adler der Bundesregierung verziert sind, und in monatelangen Abstimmungsprozessen zwischen Bundesbehörden entstehen, sind nicht mit unabhängiger Wissenschaft zu verwechseln.  Die Bundesregierung selbst ist schließlich nicht nur Auftraggeber, sondern Autor und gibt selbst zu, dass der Bericht „nicht repräsentativ im wissenschaftlichen Sinne“ ist.

Dafür sorgte nicht nur die besagte Auswahl der Teilnehmer, sondern vor allem der Prozess der „Verdichtung“ der Ergebnisse, der nur in einem Frühstadium von Wissenschaftlern, dann aber von der Regierung selbst übernommen wurde.  Die zwölf „Dimensionen“ (zum Beispiel „Wirtschaft stärken, in die Zukunft investieren“) der Lebensqualität mit  46 „Indikatoren“ (zum Beispiel „Entwicklung der Energieproduktivität“) hat die Regierung selbst gewählt.

von Simon Book, Max Haerder, Rebecca Eisert, Maximilian Nowroth, Jürgen Salz, Christian Schlesiger, Cordula Tutt, Kathrin Witsch

Sorgfältig ausgewählt sind auch die im Bericht zitierten Äußerungen von Bürgern. Keine einzige davon besteht aus direkter Kritik an der Regierung, geschweige denn der Kanzlerin. Nur wenige enthalten immerhin implizite Kritik, wie zum Beispiel eine Stimme vom Bürgerdialog des Industrie- und Handelskammertages  am 9. Juli 2015 in Berlin: „Unternehmer wollen stärker eigenverantwortlich agieren, statt entmündigt zu werden.“

Viele der zitierten Stimmen betreffen weitgehend unpolitische Alltagssorgen und Wünsche, zum Beispiel: „Für mich ist wichtig eine sinnstiftende Aufgabe zu haben. Das kann ein Beruf, eine Arbeit ein, die mir nicht nur Spaß macht, sondern die mich auch fordert…“. Der Bericht ist voll von ähnlichen, privatweltlichen Gefühlsäußerungen über „Spaß an Bewegung“, „Freude, Spaß, Entfaltung“, „das Gefühl …, gebraucht zu werden“. Sieht die Bundesregierung ihre Aufgabe darin, Sinnstifterin der Bürger zu sein? Offensichtlich. Das legt auch die Fragestellung nahe: "Was ist Ihnen persönlich wichtig im Leben?" und "Was macht Ihrer Meinung nach Lebensqualität in Deutschland aus?"

Manager-Typen dominieren die Politik. Doch deren Alternativlosigkeit ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn Ordnungen zerfallen, muss diskutiert werden. Die Folgen des Mangels an politischer Debatte erleben wir gerade deutlich.
von Ferdinand Knauß

Wer sich von dem Bericht also ein unabhängiges, sozialwissenschaftlich fundiertes Bild der Werte und politischen Zielvorstellungen der deutschen Bevölkerung verspricht, macht sich Illusionen. Er ist auch nicht, wie Vizekanzler Sigmar Gabriel heute behauptete, „Kompass und gleichzeitig Handlungsauftrag an die Politik.“ Denn der Bürgerdialog, auf dem dieser Bericht fußt, ist weniger ein von einem Erkenntnisinteresse getrieben, als vielmehr von der Absicht der Regierung, ihr Handeln mit dem Wunsch und Willen des Volkes vor diesem selbst zu rechtfertigen.

Der offensichtliche Zweck des Bürgerdialogs war von Anfang an und bleibt nach wie vor in erster Linie ein kommunikativer. Seine Existenz selbst ist eine Botschaft der Regierung: Seht, wir hören euch an und vor allem kümmern wir uns um eure Sorgen!

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