Lebensqualität in Deutschland Die Bundesregierung simuliert den Dialog

Seite 2/2

Eher affirmativ als kritisch

Dass der Bürgerdialog und vor allem der jetzt präsentierte Bericht kein grundsätzliches kritisches, sondern ein eher affirmatives Bild zeichnen würde, liegt in der Natur der Sache. Berichte, die mit dem Adler der Bundesregierung verziert sind, und in monatelangen Abstimmungsprozessen zwischen Bundesbehörden entstehen, sind nicht mit unabhängiger Wissenschaft zu verwechseln.  Die Bundesregierung selbst ist schließlich nicht nur Auftraggeber, sondern Autor und gibt selbst zu, dass der Bericht „nicht repräsentativ im wissenschaftlichen Sinne“ ist.

Dafür sorgte nicht nur die besagte Auswahl der Teilnehmer, sondern vor allem der Prozess der „Verdichtung“ der Ergebnisse, der nur in einem Frühstadium von Wissenschaftlern, dann aber von der Regierung selbst übernommen wurde.  Die zwölf „Dimensionen“ (zum Beispiel „Wirtschaft stärken, in die Zukunft investieren“) der Lebensqualität mit  46 „Indikatoren“ (zum Beispiel „Entwicklung der Energieproduktivität“) hat die Regierung selbst gewählt.

von Simon Book, Max Haerder, Rebecca Eisert, Maximilian Nowroth, Jürgen Salz, Christian Schlesiger, Cordula Tutt, Kathrin Witsch

Sorgfältig ausgewählt sind auch die im Bericht zitierten Äußerungen von Bürgern. Keine einzige davon besteht aus direkter Kritik an der Regierung, geschweige denn der Kanzlerin. Nur wenige enthalten immerhin implizite Kritik, wie zum Beispiel eine Stimme vom Bürgerdialog des Industrie- und Handelskammertages  am 9. Juli 2015 in Berlin: „Unternehmer wollen stärker eigenverantwortlich agieren, statt entmündigt zu werden.“

Viele der zitierten Stimmen betreffen weitgehend unpolitische Alltagssorgen und Wünsche, zum Beispiel: „Für mich ist wichtig eine sinnstiftende Aufgabe zu haben. Das kann ein Beruf, eine Arbeit ein, die mir nicht nur Spaß macht, sondern die mich auch fordert…“. Der Bericht ist voll von ähnlichen, privatweltlichen Gefühlsäußerungen über „Spaß an Bewegung“, „Freude, Spaß, Entfaltung“, „das Gefühl …, gebraucht zu werden“. Sieht die Bundesregierung ihre Aufgabe darin, Sinnstifterin der Bürger zu sein? Offensichtlich. Das legt auch die Fragestellung nahe: "Was ist Ihnen persönlich wichtig im Leben?" und "Was macht Ihrer Meinung nach Lebensqualität in Deutschland aus?"

Manager-Typen dominieren die Politik. Doch deren Alternativlosigkeit ist nicht mehr zeitgemäß. Wenn Ordnungen zerfallen, muss diskutiert werden. Die Folgen des Mangels an politischer Debatte erleben wir gerade deutlich.
von Ferdinand Knauß

Wer sich von dem Bericht also ein unabhängiges, sozialwissenschaftlich fundiertes Bild der Werte und politischen Zielvorstellungen der deutschen Bevölkerung verspricht, macht sich Illusionen. Er ist auch nicht, wie Vizekanzler Sigmar Gabriel heute behauptete, „Kompass und gleichzeitig Handlungsauftrag an die Politik.“ Denn der Bürgerdialog, auf dem dieser Bericht fußt, ist weniger ein von einem Erkenntnisinteresse getrieben, als vielmehr von der Absicht der Regierung, ihr Handeln mit dem Wunsch und Willen des Volkes vor diesem selbst zu rechtfertigen.

Der offensichtliche Zweck des Bürgerdialogs war von Anfang an und bleibt nach wie vor in erster Linie ein kommunikativer. Seine Existenz selbst ist eine Botschaft der Regierung: Seht, wir hören euch an und vor allem kümmern wir uns um eure Sorgen!

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%