Lehren aus den Landtagswahlen Der Wahlsieger heißt: Persönlichkeit

Quelle: imago images

In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz haben nicht so sehr die Grünen oder die SPD gewonnen, sondern Winfried Kretschmann und Malu Dreyer. Was das für den Bund bedeutet? Dass alles möglich ist: von Markus Söder bis Annelena Baerbock.

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Wer noch nach Belegen für die These sucht, dass Politik heutzutage wechselhaft und launisch bis an den Rand der Unplanbarkeit ist, wird an diesem Sonntagabend reichlich Ernte einfahren. Dass die Grünen in Baden-Württemberg die CDU am Wahlabend deklassieren konnten – wer hätte das vor einem Vierteljahr gedacht, als die CDU in Umfragen teilweise sogar vorne lag?

Und noch um den Jahreswechsel herum genoss der CDU-Herausforderer Christian Baldauf in Rheinland-Pfalz mehrere (und zuvor auch recht stabile) Prozentpunkte Vorsprung auf die Amtsinhaberin Malu Dreyer von der SPD. Dass Dreyer das gleiche Kunststück gelingen würde wie fünf Jahren zuvor gegen Julia Klöckner – auf den letzten Metern souverän vorbeizuziehen -, das hätten vor Kurzem wohl nur die unverbesserlichen Optimisten unter den Genossen zu träumen gewagt.

Wäre nicht Corona und wären die Parteizentralen entsprechend voll – der Jubel der Anhänger in Stuttgart und Mainz dröhnte entsprechend ohrenbetäubend. Dass die beiden erfolgreichsten Parteien die Hochrechnungen dieses Abends nun für sich und ihre großartige Arbeit reklamieren – geschenkt, das gehört zu den üblichen Ritualen. 

Dabei ist unübersehbar, dass heute nicht zuerst zwei Parteien den Sieg eingefahren haben, sondern die Charakterköpfe an deren Spitze. Persönlichkeit schlägt Programm.

Ein Trend, der sich seit Längerem abzeichnet, wurde heute eindrucksvoll bestätigt. Er widerspricht auch keineswegs dem Befund der Wechselhaftigkeit: Wählerische Wähler bilden vielmehr dessen Fundament, weil abnehmende Parteibindungen andere Beweggründe aufwerten. Das Kreuz wird nicht mehr stur aus Loyalität gemacht, sondern aus dem Gefühl heraus.

Da wäre Winfried Kretschmann: Der grüne Ministerpräsident von Baden-Württemberg steht für knorrige Anständigkeit, für wohldosierten Widerstand gegen allzu viel Anbiederung an einen übersteigerten Zeitgeist. Mit dem 72-Jährigen bekommt man den Willen zum ökologischen Wandel, aber eben keine Schimpfkanonaden gegen die S-Klasse. Für die Grünen ist er auch wegen der von ihm ausgehenden wirtschaftspolitischen Ausstrahlung von unschätzbarem Wert: Seht hier, lautet die Botschaft, dem wohlstandsverwöhnten Mittelstandsländle geht es mit uns nicht schlechter.

Dreyer wiederum ist schon lange so etwas wie die SPD-Vorsitzende der Herzen, weil sie Warmherzigkeit und Pragmatismus mit Wahlerfolgen zu verbinden weiß. Dreyer kann empathisch und resolut – und sie bringt so viel persönliche politische Statur mit, dass bei ihr nicht einmal der linke Flügel über die Einbindung der FDP in der Ampelkoalition argwöhnte. Das muss man erst einmal hinbekommen. Saskia Esken könnte das nicht.

Wer unberechenbare Wähler mit dieser wachsenden Bedeutung von Spitzenkandidaten zusammendenkt, kommt für die Bundestagswahl zu einer Konstellation, die in dieser Offenheit vielleicht einmalig ist. Oder hat es einmal einen aufziehenden Bundeswahlkampf gegeben, bei dem gleich fünf mögliche Kanzler(innen) denkbar sind – aus insgesamt vier Parteien? Markus Söder. Armin Laschet. Olaf Scholz. Robert Habeck. Annalena Baerbock. Sie alle sind unterschiedlich wahrscheinlich – aber Stand heute ist keiner unmöglich.

Das hat natürlich damit zu tun, dass die - nun ja – Mutti aller Wechselwählereinsammlerinnen im September nicht mehr antritt. Angela Merkel war auch deswegen die perfekte Kandidatin dieser Ära, weil sie wie keine zweite inhaltliche Unschärfe mit persönlichem Vertrauenskapital zu veredeln verstand. CDU, CSU, FDP, SPD? Hauptsache sie.

Merkelstimmen gibt es nur mit Merkelpolitik – dieser so zwangsläufig und logisch klingende Satz von CSU-Chef Markus Söder dürfte deshalb genau an der Sache vorbei gehen. Denn was, wenn es Merkelstimmen doch nur mit Merkel gibt? Besser gesagt: gab?

Dann hätten insbesondere Laschet und Scholz ein Problem. Der CDU-Chef und der SPD-Kanzlerkandidat nehmen beide für sich in Anspruch, die Kanzlerinnen-Ära jedenfalls auf der atmosphärischen Ebene fortführen zu wollen und zu können. Keine Aufregungen, keine Experimente, keine Radikalität, dafür solides Handwerk und Common Sense – nicht alles anders, dafür manches besser machen.

Nur dass Laschet (jedenfalls oberflächlich betrachtet) die aufkommende Reformsehnsucht im Land so gar nicht bedient. Ebenso wenig wie Scholz behaupten kann, nur dank ihm habe die große Koalition den Stresstest Corona mit ordentlichem Regieren aus dem Vizekanzleramt bestanden. Hat sie nicht. Und nebenbei: Ein bisschen mehr Radikalität würden sich die Kevin Kühnerts schon wünschen.

Bleiben noch Söder und das grüne Duo Baerbock/Habeck. Der bayrische Ministerpräsident darf sich noch am ehesten angesprochen fühlen, wenn es zum Wahltag hin vor allem darum gehen sollte, ein ausgemerkeltes Land wieder streng an die Kandare zu nehmen. Aber das heute mit Sicherheit sagen zu wollen – ein Ding der Unmöglichkeit.

Wähler geben an der Urne immer auch ein Bild ihrer selbst zu Protokoll. Bei Bundestagswahlen heißt das: Wen schicken sie als Repräsentant(in) ins Weiße Haus, in dem Kreml; wer sitzt für sie am Tisch der G7 neben Joe Biden oder Boris Johnson. Jüngst zeichnete die ZEIT ein sehr lesenswertes Porträt Robert Habecks, das nicht den grübelnden Philosophenkönig zeigte, sondern den Kompromissfinder;  jemanden, der es gelernt habe, zu regieren und eine Behörde zu nutzen. Es kam sicher nicht zu früh.

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Baerbock wiederum hat in der Vergangenheit ebenfalls eine Menge investiert, um auf Augenhöhe mit ihren politischen Möglichkeiten zu kommen. Sie ist es bei den Bundesgrünen vor allen anderen, die den Brückenschlag zur Wirtschaft und zur Großindustrie versucht, die Vorbehalte in Perspektiven transformieren, das Wolkenkuckuckshafte aus der Partei vertreiben will. Ob gerade ihre patente, lebensnahe, griffige Angriffslust reichen wird, genügend Bürgerlichen die Scheu vor den Grünen zu nehmen? 

Wie gesagt: alles offen. So offen wie selten zuvor. Menschen wählen keine Programme. Im Herbst wählen sie den neuen Menschen ihres Vertrauens. 

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