Lehren aus der Bundestagswahl Wer Kanzler werden will, braucht plötzlich eine neue Eigenschaft

Quelle: dpa

Vielleicht ist das die wichtigste Botschaft vom Wahlabend: Deutschlands Herausforderungen sind zu umfangreich, als dass man sie einem neuen Kanzler allein anvertrauen könnte. Jede Dreierkonstellation im Bund wird eine komplizierte Aufgabe lösen müssen: souverän gönnen können.

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Eine besonders traditionsreiche Spielart der Schwarmintelligenz hört auf den Namen Wählerwillen. Aber wie das so ist mit den Produkten höherer Intelligenz: Sie sind nicht immer ganz leicht zu verstehen. Das Ergebnis der Bundestagswahl 2021 gehört ganz sicher in diese Kategorie. Es hinterlässt Sieger, die nicht recht jubeln wollen; Aufstrebende, die sich ihrer Macht nicht sicher sind; und Geschlagene, die doch noch Chancen wittern.

Armin Laschet zum Beispiel. Der Unions-Kanzlerkandidat verantwortet das schlechteste Ergebnis von CDU und CSU seit Bestehen der Bundesrepublik, er hat sich Peinlichkeiten geleistet und über allem anderen eine uninspirierte, wacklige Kampagne angeführt. Und doch könnte er immer noch Kanzler werden, hätte die Union am Ende fast noch die SPD eingeholt, trotz allem. Ein harter Kern hält also zur Union. Und dieser Kern ist ziemlich schwarz und ziemlich solide.

Oder nehmen wir Olaf Scholz. Natürlich ist der SPD-Vormann der Wahlsieger. Er war ausweislich seiner persönlichen Zustimmungswerte der klare Favorit der Wählerinnen und Wähler. Und er hat seiner Partei wieder einmal das fast vergessene Gefühl geschenkt, gewinnen zu können. Im Bund. Trotz Groko. Aber ein glühender Triumph der Wechselstimmung will und will sich auch einige Stunden nach Schließung der Wahllokale nicht einstellen; schon am Wahlabend im Willy-Brandt-Haus kam nach dem Feiern schnell das Grübeln.

Grünen-Co-Chef Robert Habeck und der FDP-Vorsitzende Christian Lindner positionieren sich als mächtige Kurfürsten im Kanzlerspiel. CDU-Kanzlerkandidat Armin Lascht kämpft derweil um sein politisches Überleben.
von Dieter Schnaas

Und Annalena Baerbock? Christian Lindner? Die eine und ihre Partei haben deutlich zugelegt und fühlen sich dennoch ein bisschen wie Geschlagene. Kein Wunder: Der Mantel der Geschichte leuchtete frühlingsgrün, doch die Kandidatin bekam ihn nicht zu fassen. Der andere und seine Liberalen haben ein sehr ordentliches Ergebnis von 2017 noch einmal verbessern können, doch eine carte blanche für eine in gelb getünchte Agenda 2030 sieht dennoch irgendwie anders aus.

Am Morgen danach liegt also Nebel über dem Land, und die Luft schmeckt nicht nach Revolution. Deutschland hat eine Art Neuanfängchen bestellt.



Die Bundeskanzlerin jedenfalls, auch das gehört zur komplizierten Botschaft der Wähler dazu, wurde am gestrigen Abend nicht vom Hof gejagt. Merkelland mag in den vergangenen Jahren und Monaten einige schmerzende, teils gravierende Schwächen offenbart haben – die Bürgerinnen und Bürger sind klug genug, dass nicht nur ihrer geschätzten, scheidenden Chefin anzukreiden: It’s the Gesamtsituation, stupid.

Eine Dreierkoalition ist nach der Bundestagswahl wahrscheinlich. Doch statt sich gemeinsam starkzumachen, herrscht zwischen Grünen und FDP Funkstille. Das schwächt sie gegenüber SPD und Union.
von Cordula Tutt

Sie haben sich deshalb auch gerade nicht mit blinder Leidenschaft dem (oder der…) nächsten an den Hals geworfen und mit üppigen Mehrheiten ausgestattet, in der sehnsuchtsvollen Illusion, jetzt aber nun wirklich gerettet zu werden. Dass es in Zukunft mit großer Wahrscheinlichkeit eine im Bund unerprobte, ungekannte Dreierkoalition geben wird, kann man deshalb auch so lesen: Die Herausforderungen sind zu groß, als dass man sie den beiden Herren, die da Kanzler werden wollen, allein anvertrauen sollte.

Das klingt durchaus erst einmal vernünftig. Intelligent eben. Es stellt den politisch Verantwortlichen in den kommenden Wochen aber auch eine überaus komplizierte Aufgabe: Wer immer Kanzler werden will, muss seine Macht teilen wie nie zuvor. Wer als Partner mit in die Regierung drängt, muss akzeptieren, dass zwei weitere ebenfalls Kernanliegen haben, die wiederum der eigenen Klientel übel aufstoßen könnten. Ob so viel Souveränität und Standing auf allen Seiten vorhanden sein werden?

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Könnten die Liberalen wirklich mit 12 Euro Mindestlohn leben? Die Grünen mit den Begrenzungen der Schuldenbremse? Die SPD-Linke ohne Steuererhöhungen? Oder, Jamaika-Variante, der Union-Wirtschaftsflügel mit grünen Klima-Leitplanken, auf CDU-Deutsch: Verboten? Oder nochmal anders gewendet: Wie erklärt Christian Lindner, dass er Rot-Grün zur Macht verhilft? Wie Annalena Baerbock, dass sie für Schwarz-Gelb und Armin Laschet den Steigbügel hält?

Hier liegt die große Koalitionsbaukunst für die kommenden Wochen: dass genau diese Fragen in den Hintergrund rücken.

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