Leutheusser-Schnarrenberger „Unbürokratische Hilfe für Türken in Deutschland“

Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger tadelt die Bundesregierung. Berlin übe nur „halbherzige Kritik“ an Erdogans „Radikalkurs“. Die hier lebenden türkischen Akademiker sollen in Deutschland bleiben dürfen.

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Präsident Erdogan greift nach dem Putschversuch hart durch – auch an Hochschulen. Ankara forderte den Rücktritt von 1577 Universitäts-Dekanen. Quelle: AP

Berlin Angesichts der massiven Eingriffe in das Justizsystem und die Verhaftungswelle in der Türkei hat die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) die Haltung der deutschen Regierung scharf kritisiert. „Die Bundesregierung hofft offenbar, sich in die Sommerpause retten zu können“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger dem Handelsblatt. „Anders ist ihre halbherzige Kritik am Radikalkurs von Erdogan nicht zu verstehen.“

Der  türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan geht seit Tagen massiv gegen mutmaßliche Beteiligte eines Putschversuchs vom Wochenende vor. Fast 10.000 Menschen wurden bereits verhaftet. Fast 60.000 Beschäftigte des öffentlichen Diensts wurden ihrer Ämter enthoben, darunter etwa 3000 Richter und Staatsanwälte. Zwei Richter des Verfassungsgerichtes wurden verhaftet. Zudem forderte Ankara den Rücktritt von 1577 Universitäts-Dekanen und stoppte alle Auslandseinsätze für staatliche Akademiker.

„Angesichts der Einschüchterung und der Verfolgung muss die Bundesregierung andersdenkenden türkischen Bürgern aus der Türkei und verfolgten Türken, die derzeit in Deutschland leben, unbürokratisch helfen“, forderte Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger. „Die Bundesregierung sollte schnell türkischen Wissenschaftlern in Deutschland Aufenthaltsstatus gewähren“, forderte die FDP-Politikerin.

Erdogan verbat sich unterdessen energisch Kritik aus Europa an dem seit Mittwochabend verhängten dreimonatigen Ausnahmezustand. Auch europäische Länder hätten bereits bei weniger gravierenden Anlässen den Ausnahmezustand verhängt, sagte Erdogan mit Blick auf Frankreich. Wer zu diesen Ländern schweige, habe „definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren“. Unter dem Ausnahmezustand kann Erdogan weitgehend per Dekret regieren. Seine Erlasse haben nun Gesetzeskraft und treten mit der Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft. Noch am selben Tag müssen sie dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden, das angesichts der AKP-Mehrheit aber jeweils zustimmen dürfte.

Für den gescheiterten Putschversuch macht Erdogan das Netzwerk des islamischen Predigers Fethullah Gülen verantwortlich. Bereits vor Verhängung des Ausnahmezustands wurden Tausende mutmaßliche oder vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung in Militär, Polizei, Justiz, Schulen und Hochschulen festgenommen oder suspendiert.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier forderte die Türkei auf, den Ausnahmezustand möglichst kurz zu halten. Er müsse „auf die unbedingt notwendige Dauer beschränkt und dann unverzüglich beendet“ werden, sagte Steinmeier am Mittwochabend bei einem Besuch in Washington. Zugleich mahnte er: „Bei allen Maßnahmen, die der Aufklärung des Putschversuchs dienen, müssen Rechtsstaatlichkeit, Augenmaß und Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben.“

Beschwichtigend gab sich der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu. „Der Ausnahmezustand steht der Demokratie, dem Gesetz und der Freiheit keineswegs entgegen. Ganz im Gegenteil, es dient der Wahrung und Stärkung dieser Werte“, verkündete er im Kurznachrichtendienst Twitter. Unter dem Ausnahmezustand können die Behörden beispielsweise Ausgangssperren verhängen, Versammlungen untersagen und Medienberichterstattung zensieren oder verbieten.

Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte, der Ausnahmezustand werde den Alltag der gewöhnlichen Menschen keinesfalls negativ beeinflussen. „Unsere Bürger sollen sich sicher sein, dass wir fest entschlossen sind, die Beseitigung dieser Verräter fortzusetzen und alles dafür zu tun, unsere Gesetzesordnung, Demokratie, wirtschaftliche Stabilität und öffentliche Ordnung zu schützen.“

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