Humboldt meint damit nicht nur die Freiheit zur Ausbildung von Verschiedenheit und Originalität, sondern auch die Freiheit, sich „gleichsam Zugänge von einem zum anderen zu eröffnen“, „durch ununterbrochenes Streben… dessen „Eigentümlichkeit“ zu fassen, sich mit ihm zu verbinden und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Kein Zweifel: Humboldts Staat ist ein Staat unabhängiger, starker und - im wahrsten Sinne des Wortes - eigensinniger Bürger, die durch Persönlichkeitsbildung sich selbst gegenüber und dadurch auch für andere laufend schätzbarer werden. „Kraftvolle Charaktere“, so Humboldt, die sich aus freien Stücken zu einem Sozialgewebe verbinden, haben gewissermaßen von Natur aus Interesse an einem Staat, der „sich aller Sorgfalt für (ihren) positiven Wohlstand“ enthält. Bildung, Sittlichkeit und Freiheit stellen für den preußischen Reformer eine Art heilige Dreifaltigkeit wider die Gleichheitsgefahr dar, weil deren Elemente sich wechselseitig bedingen und begünstigen: Wie die „Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung durch Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit der Handelnden gewirkt wird, so bringt sie beides wiederum hervor.“
Zumindest theoretisch. Denn praktisch sieht John Stuart Mill die Sache der Freiheit bereits 1859 so gut wie verloren. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung, so Mill, die „Verbesserungen der Verkehrsmittel“ und die „Zunahme von Handel und Gewerbe“, haben das Problem der massendemokratischen Gleichheit noch einmal verschärft: „Früher lebten verschiedene Ränge, Nachbarschaften, Gewerbe und Berufe in, man kann sagen, verschiedenen Welten. [Heute] lesen, hören, sehen [alle] dieselben Dinge, gehen an dieselben Orte, richten Hoffnungen und Befürchtungen auf dieselbe Sache… Und diese Angleichung schreitet fort.“
Es ist offensichtlich, dass Mill die Wucht seiner Kulturkritik als Kontrastfolie dient, um seinen (beinah‘) verlorenen Helden, die Freiheit, (noch einmal) umso heller erstrahlen zu lassen. In der Düsternis, mit der sein Gegenwartsbild zeichnet, nimmt er Oswald Spengler vorweg - und bereitet Friedrich Nietzsches Titanen die Bühne: „Energische Charaktere mit großem Format gehören schon jetzt bloß noch in den Bereich der Sage“, so Mill; statt dessen sei es heute „das Ideal des Charakters, ohne markanten Charakter zu sein, jeden Teil der menschlichen Natur, der hervorragt, durch Zusammenpressen zu verkrüppeln - wie den Fuß einer chinesischen Dame.“ Angesichts einer Masse, die ihr Denken frei Haus geliefert bekomme „von Leuten, die ihr sehr gleichen“, sei schon „die bloße Weigerung“, vor der öffentlichen Meinung „in die Knie zu sinken, an sich ein Verdienst“. Den Kampf zwischen Freiheit und Autorität, den Mill zur „Lebensfrage der Zukunft“ stilisiert, stehe auf des Messers Schneide: Es sei an den „Starken“, „Vitalen“ und „Wenigen“, den Vielen ein „Beispiel zu geben für aufgeklärte Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben“ - und es sei an der Regierung, endlich einzusehen, dass „der Wert eines Staates“, dem „Wert der Individuen entspricht, die ihn bilden“. Eile, so Mill, sei geboten, denn „die Forderung, dass alle anderen Menschen uns gleichen sollen, wächst durch die Nahrung, die sie erhält. Wenn der Widerstand wartet, bis das Leben nahezu auf einen gleichförmigen Typus gebracht ist, dann wird man alle Abweichungen von diesem Typ als gottlos, unmoralisch, ja sogar monströs und widernatürlich ansehen.“
Vielleicht sollte es uns hoffnungsfroh stimmen, dass die Liberalen die Gleichheit nun schon seit 150 Jahren unaufhaltsam auf dem Vormarsch wähnen - und dass die Freiheit dennoch nicht totzukriegen ist. Vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja darin begründet, dass er uns seit anderthalb Jahrhunderten nichts Neues zu sagen hat? Dass uns die Liberalen seit den Tagen von Humboldt und Mill in endlosen Reprisen ihrer Formeln und Phrasen einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren - und uns dem immer gleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen Staat auf sattgrüne Weidegründe führen zu lassen? Kann es sein, dass wir das ewige Lamento, wir seien willenlose Schafe, eingeschlossen in den Fangarmen eines bürokratischen Umverteilungsstaates, der sich wie eine Krake über unser Denken, Fühlen und Handeln legt, bis all‘ unsere Eigeninitiative erlahmt ist, einfach nicht mehr hören können? Ist es nicht pure Hoffart des Liberalismus, uns andauernd vorzuwerfen, wir ließen „die Welt“ oder unser „Milieu“ über unseren Lebensplan entscheiden, weil es dazu nichts anderes brauche als „affenartige Nachahmungskunst“ (Mill)?
Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das wirtschaftliche Wachstum haben ihr einerseits ein schier unendliches Spielfeld eröffnet: „Nie zuvor hatten so viele Menschen so große Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf) - doch nie zuvor waren wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen Alternativlosigkeiten bedrängt.
Nie zuvor war so viel Weltwissen gesammelt, vernetzt und verbreitet - und nie zuvor die Bereitschaft größer zu normierter Bildung und beruflicher Funktionalität, zu Zerstreuung, konformistischem Medienkonsum und trivialer Freizeitverbringung. Nie zuvor war unsere Gesellschaft so individualisiert, so eingesponnen ins Private, so tolerant und permissiv, breit aufgefächert in Berufe, Hobbies, Vorlieben - und nie zuvor ist der Gesellschaftskörper zugleich so willenlos und gegenwartspolitisch korrekt im Wind der herrschenden Meinung gesegelt, mitgerissen von den modischen Strömungen der Zeit, von der Umverteilungs- und Wohlfahrtswut der sozialen Gerechtigkeitskämpfer (ab 1970er Jahre) über den Deregulierungsfuror und Steuersenkungskannibalismus der Trivialliberalen (ab 1990er Jahre) bis hin zum heutigen Öko-Calvinismus savonarolischer Global-Moralisten.