Seit mehr als 80 Jahren, seit der Weltwirtschaftskrise 1929 ff., liegt der ehemals so stolze Liberalismus nun schon auf der Intensivstation, mehrfach klinisch tot, wieder zurück ins Leben geholt und künstlich beatmet - ein Dauerpatient der Politik- und Wirtschaftstheorie, ständig unterm Messer, laufend notoperiert, anscheinend ohne Aussicht auf Genesung. Seine Freunde haben ihm gleich nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues Rückgrat verpasst ("Neoliberalismus") und ihm bis weit in die 1970er Jahre hinein mit semantischen Krücken unter die Arme gegriffen (“wirtschaftsliberal“, “sozialliberal“), sich aber dann von ihm abgewendet, um seine Pflege wirtschaftsmedizinischen Effizienztheoretikern zu überlassen. Diese “Neo-Neo-Liberalen” haben den chronisch Siechen in den 1980er Jahren durch allerlei ideologische Schrumpfkuren (“Thatcherism“, “Reagonomics“) und theoretische Aderlässe (“Liberalisierung der Finanzmärkte”) massiv geschwächt.
Am Ende war der Liberalismus als anspruchsvolle Denkform und Seinsweise so abgemagert und ausgehungert, dass er außer “Privatisierung“, und “Steuersenkung” kein Wort mehr über die Lippen brachte. Heute, angesichts einer “Neuen Sozialen Frage“ in den Industrieländern und kurz vor dem Kollaps des internationalen Staatsschuldenkapitalismus, ist sein Zustand so hoffnungslos, dass er sich nicht einmal mehr der Esoteriker erwehren kann, die an sein Krankenbett eilen, um ihn mit ein bisschen Wärme (“mitfühlender Liberalismus“) endgültig tot zu pflegen.
Dass der Liberalismus zu wichtig ist, um ihn den Liberalen zu überlassen, ist keine neue Erkenntnis. Alfred Müller-Armack etwa fürchtete die Selbstzerstörungskräfte einer liberalen Wirtschaftsordnung beinah’ mehr als ihre erklärten Feinde - und erinnerte bereits 1946 daran, dass “die marktwirtschaftliche Organisationsform ihre Überlegenheit nur dann zu entfalten vermag, wenn ihr aus geistigen und politischen Kräften eine feste äußere Ordnung gegeben wird”. Schon damals hielt der Mitbegründer der Sozialen Marktwirtschaft den in “religiösen Bezirken verankerten Harmonieglauben” der Adam-Smith-Jünger für dringend säkularisationsbedürftig. Es sei eine “unkluge Übertreibung” des Liberalismus gewesen, “die Wettbewerbsform für eine Naturform gehalten” und in der “Tauschgesellschaft” einen “Vollautomaten” gesehen zu haben, der keiner “sinnvollen menschlichen Steuerung” bedürfe. Er selbst habe nicht nur “das Zutrauen in die Selbstheilungskräfte der Wirtschaft” verloren, sondern vor allem das Zutrauen in eine Marktwirtschaft, die vom Liberalismus “zum Idol seiner Weltanschauung” erhoben werde.
Die Marktwirtschaft, so Müller-Armack, sei kein Selbstzweck, sondern ein “zweckmäßiges Organisationsmittel”, das “im stärksten Maße einer geistigen Formung” bedürfe. Ohne “von außen kommende Prägung” könne sie “auf die Dauer nicht existieren”, weil es ihr “sichtlich an stabilisierenden Kräften” fehle, “um ihre eigene Form” zu schützen. Kurzum: Die Liberalen wollen nicht begreifen, so Müller-Armack, dass die Marktwirtschaft von Voraussetzungen lebt, die sie selbst nicht garantieren kann.
Die Neoliberalen
Den Neoliberalen ging es in den 1950er Jahren vor allem darum, diese Voraussetzungen sichtbar zu machen - und die Marktwirtschaft in eine “Gesamtlebensordnung” einzubetten, die das freie Spiel von Angebot und Nachfrage dauerhaft sichert. Für Wilhelm Röpke etwa, den schärfsten Denker und größten Stilisten unter ihnen, kommt die Marktwirtschaft erst dann zu sich, wenn sie auch “moralisch jener Mitte entspricht”, die “das alltägliche bürgerliche Leben” kennzeichnet. Selbstdisziplin, Gerechtigkeitssinn, Ehrlichkeit, Fairness, Ritterlichkeit, Gemeinsinn und feste sittliche Normen - das alles sind für Röpke “Dinge, die die Menschen bereits mitbringen müssen, wenn sie auf den Markt gehen und sich im Wettbewerb miteinander messen”.
Röpke hatte nach dem “fast schattenlosen Optimismus des großen liberalen Jahrhunderts von 1814 bis 1914” bereits 1958 nur noch Verachtung übrig für den “Animalismus” einer “Gesellschaft, die ihr Glück in Freizeit, technischen Wundern und ständiger rascher Ortsveränderung auf Zementbahnen sucht”. Er geißelte die “Geist- und Kulturferne der Geschäftswelt“, den “liberalen Anarchismus”, den “Triumph der platten Nützlichkeit”, den “Kult der Produktivität und materiellen Expansion” - und rief seine Leser dazu auf, sich dem “Massenangriff des Betons” mit grünkonservativen Mitteln zu entziehen: Wald, Garten, Hausmusik, Bücher, Kirche, Familie und Kinderaufzucht.
Andere Freigeister, Leopold Kohr vor allem, knüpften lieber an das romantisch-anarchische Erbe des klassischen Liberalismus an, um ihre Selbstbestimmungslust und Lebensgier vor dem sanften Despotismus anonymer Verwaltungsstaaten in Sicherheit zu bringen. Kohr hielt “Größe“ für das schlimmste Krebsgeschwür der Moderne. Er prophezeite die Unregierbarkeit großer politischer Einheiten, warnte vor der Bedrohung individueller Freiheiten durch “Systemzwänge”, machte auf die Relation von Überschaubarkeit und (Eigen-)Verantwortung aufmerksam - und ermunterte seine Leser zur Entdeckung der Langsamkeit in kleinen, fassbaren Lebensräumen.
Die Marktwirtschaft war für die Neoliberalen gleichsam das natürliche Korrelat zu dieser Gesamtlebensordnung: eine “liberale Sozialtechnik”, die Machtdiffusion begünstigt und die Leistungsenergie von Selbstständigen freisetzt, die eine mittelständische Gesellschaft formt, deren Unabhängigkeit vom “Kollossalvormund“ Staat maximal und deren “Gruppenappetit” auf Sicherheit und Genuss sehr mäßig ist (Röpke).
Zu den Vorzügen und Voraussetzungen dieser neoliberalen Marktwirtschaft gehören, so Müller-Armack, eine stabile Währung, also “ein streng gegen allzu große Expansion abgeriegeltes Geld- und Kreditsystem“ und ein “gesunder Betriebsaufbau”, das heißt: eine aktive Wirtschaftspolitik, die mittelständische Firmen fördert, Machtkonzentration verhindert und risikolose Gewinne rigoros abschöpft. Darüber hinaus ist für Müller-Armack selbstverständlich, dass in der Konkurrenzwirtschaft alle Teilnehmer das Prinzip “Eigenverantwortung” beim Wort nehmen und für ihre Verluste geradestehen - und dass Unternehmen ihre Geschäftspolitik nicht an der Maximierung des Gewinnes, sondern an den Bedürfnissen des Konsumenten orientieren. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt seien, gibt Müller-Armack zu bedenken, könne die Marktwirtschaft ihre doppelte Funktion erfüllen: in ökonomischer Hinsicht als eine Art “Signalapparat”, der Knappheitsverhältnisse anzeigt und das Spiel von Angebot und Nachfrage steuert - und in soziologischer Hinsicht als “Organisationsprinzip”, das analog zu den Zielen des politischen Liberalismus eine “extreme Gewaltenteilung“ begünstigt, weil es “durch verstärkte Konkurrenz” wirtschaftliche Macht verteilt.
Die Krise des Liberalismus
Solange der “Preismechanismus” und das “Konkurrenzprinzip” nicht angetastet würden, so Müller-Armack, seien staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft durchaus kein Problem. Einen “direkten Einkommensausgleich” im Wege der Besteuerung und eine Verteilung der “einlaufenden Beiträge etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen [und] Mietzuschüssen“ hält er geradezu für den “Idealfall eines marktgerechten Eingriffs”. Und natürlich hat er auch nichts dagegen, “eine staatliche Mindestlohnhöhe zu normieren…, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden” - schließlich stören nicht “Ordnungstaxen” den Marktmechanismus, sondern Dumpinglöhne.
Genau 65 Jahre sind vergangen, seit Müller-Armack seine Gedanken zu Papier brachte. Eine lange Zeit. Und doch nur ein Wimpernschlag verglichen mit der Unendlichkeit, die sein Versuch einer Widerbelebung des Liberalismus von der Bonn-Berliner Realpolitik trennt. Die Liberalen haben der Politisierung des Geldes nicht widerstanden und den Respekt vor dem hohen Gut seiner Wertbeständigkeit verloren. Sie haben die Kreditexpansion geduldet, Schulden angehäuft und die Befriedigung eines Kapitalbedarfs gefördert, der sich aus den giftigen Quellen der Inflation und des Steuerzwanges speist. Sie haben durch ostentative ordnungspolitische Passivität den Aufbau eines Bankensektors gefördert, der seine Risiken systematisch auslagert, seine Verluste sozialisiert und alle Haftung beim Steuerzahler ablädt.
Sie haben die Konzentration der Energieversorgung protegiert und die Folgekosten der Atomstromerzeugung dem Staat aufgebürdet. Vor allem aber haben sie willenlos zugesehen, wie sich in Deutschland eine “Angestelltengesellschaft” formiert hat, „deren zentraler Wirtschaftsbegriff das Geldeinkommen und nicht das Eigentum ist“ (Röpke), eine Managerkaste, die ihren Boni mehr Wert beimisst als dem langfristigen Firmenerfolg, eine Unternehmenslandschaft, die vor allem ihrer Eigner (Aktionäre) prämiert und nicht so sehr ihre Mitarbeiter und Kunden - und schließlich: ein ganzes Heer vor Arbeitslosen und Niedriglöhnern, die abhängig sind von der „Stallfütterung“ des Staates. Tatsächlich hat ausgerechnet der Liberalismus mit seiner emphatischen Freiheits- und Eigentumsidee beinah‘ teilnahmslos zugesehen, wie ein neues Dienstleistungsproletariat entstand, das in einem Kreislauf aus „Reservenlosigkeit“, „Wurzellosigkeit“ und „Abhängigkeit“ gefangen ist, ohne “begründete Hoffnung, aus diesem Geleise herauszukommen“, ohne Chance auf wirtschaftliche Unabhängigkeit, ein bisschen Sparvermögen und “bescheidenes, aber Ankerfunktion versehendes Eigentum” - chronisch anfällig für “Mythen, `Programme` und soziale Erlösungslehren“ (Röpke).
Damit nicht genug, sind über die politpraktischen Defizite des Liberalismus hinaus seit Röpkes und Müller-Armacks Tagen auch seine theoretischen Fundamente zunehmend morsch geworden: Der klassische Eigentumsbegriff steht heute genauso in Frage wie das philosophische Konzept einer “negativen” Freiheit, also einer persönlichen Freiheit, die vollkommen unbestimmt ist und ihren Träger (den Menschen) zu nichts verpflichtet.
Der Eigentumsbegriff
Tatsächlich scheint der Eigentumsbegriff der Liberalen hoffnungslos veraltet. Entwickelt wurde er im 17. Jahrhundert, als sich die bürgerliche Marktgesellschaft formierte und zunehmend viele Kaufleute und Händler an der Sicherung ihrer Besitzstände interessiert waren. Im Gegensatz zum parasitären Adel, der vom jährlichen Ertrag seiner Ländereien zehrte, entsteht das bürgerliche Eigentum aus Arbeit und Eigenleistung - eine Idee von epochaler Bedeutung, deren Zauber sich seither nur notorische Misanthropen, vulgo: Kommunisten entziehen.
Formuliert hat sie John Locke (1690): “Obwohl die Erde… allen Menschen gemeinsam gehört, so hat doch jeder Mensch ein Eigentum an seiner Person. Auf diese hat niemand ein Recht als nur er allein. Die Arbeit seines Körpers und das Werk seiner Hände sind… im eigentlichen Sinn sein Eigentum.” So weit, so gut. Doch dann geht es weiter: “Was immer er also dem Zustand entrückt, den die Natur vorgesehen und in dem sie es belassen hat”, ist also “das unbestreitbare Eigentum des Arbeiters” und “niemand außer ihm” hat ein Recht darauf - solange “ebenso gutes den anderen gemeinsam verbleibt”.
Lockes Eigentumsbegriff ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Er erzählt noch nichts von einem lohnabhängigen Proletariat, das kein “Eigentum” am Ertrag seiner Arbeit haben wird. Er rechtfertigt allein die Erstaneignung, also die persönliche Inbesitznahme - und sagt nichts aus über die Vererbung von Eigentum.
Vor allem aber geht Locke - 160 Jahre bevor die “frontier” in der Neuen Welt den Mississippi erreicht - von unbegrenzten Ressourcen aus, von Ländereien, die im Überfluss vorhanden sind und nur darauf warten, vom Menschen untertan gemacht zu werden. Davon kann heute erkennbar keine Rede mehr sein - und der Wirtschaftsliberalismus hat lange Zeit nicht mal ansatzweise durchblicken lassen, dass er auf die offene, zunehmend brennende Frage der Nutzung von endlichen oder gefährdeten Gemeingütern (Wald, Klima, Wasser, Öl) eine Antwort weiß.
Erst seit auch Asien lautstark Besitzansprüche anmeldet und beherzt auf Rohstoffe zugreift, reift rund um den Globus die Einsicht, die Erde selbst sei der “Menschheit” Eigentum, also auch derer, die sie von der Gegenwartsgeneration erben. Der “Signalapparat” der Marktwirtschaft leistet dabei wertvolle Unterstützungsarbeit: Die zunehmend knappen Ressourcen verteuern sich. Und auch der zuletzt besitzindividualistisch hoffnungslos trivialisierte Eigentumsbegriff der Liberalen kommt langsam wieder zu sich: Das ihm innewohnende Prinzip der Sorge wird endlich rehabilitiert.
Der Freiheitsbegriff
Segensreiche Folgen hat das vor allem für den Freiheitsbegriff der Liberalen. Seine klassische Definition stammt von John Stuart Mill (1859) und “lautet: dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit… sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen. Dass der einzige Zweck um dessentwillen man Zwang gegen den Willen eines Mitglieds einer zivilisierten Gemeinschaft rechtmäßig ausüben darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten”.
Mill ging es damals darum, jeder noch so wohlgemeinten Fürsorge einer Regierung möglichst enge Grenzen zu setzen. Er fürchtete um die Freiheitsfähigkeit mündiger Bürger im Schoße eines Nanny-Staates und den Verlust ihrer Tugendhaftigkeit, weil er bezweifelte, “dass mit kleinen Menschen… große Dinge vollbracht werden können”. Freiheit, so Mill, bestehe ganz einfach darin, zu tun was man wolle. Solange zum Beispiel jeder wisse, dass eine Brücke unsicher sei, sei niemand daran zu hindern, sie dennoch zu betreten - im Gegenteil: Erst die Freiheit, das Wagnis einzugehen oder nicht, schärfe den Verstand und erhalte die Wachsamkeit.
Das klingt gut - aber wie lässt sich die liberale Freiheit von Mill mit dem Prinzip der Sorge und Bestandspflege vereinbaren, von dem das liberale Eigentum seit Wilhelm Röpke erzählt? Der Schlüssel liegt im Begriff der Verantwortung. Natürlich kann die “Schädigung anderer”, die nach Mill die Grenze der Freiheit bezeichnet, heute mühelos und aus jedem noch so geringfügigen Anlass nachgewiesen werden - ein Kohlekraftwerk in der Kamschatka zum Beispiel schädigt die Lebensgrundlagen meines nichtgeborenen Enkels - und natürlich marschieren unsere politischen Schutzmächte täglich auf, um erstens Alarmstimmung zu verbreiten und uns zweitens zu retten: vor Klimasündern, Rauchern und Bankberatern, vor Facebook-Parties, Scientology und unfair gehandeltem Kaffee. Die anspruchsvolle Aufgabe des Liberalismus bestünde nun darin, eine qualitative Bestimmung vorzunehmen: Welche Freiheiten schaden wirklich, welche wollen wir dennoch dulden, welche sollen unantastbar sein?
Der kanadische Philosoph Charles Taylor hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass der “negative” Freiheitsbegriff der Liberalen nicht aufrechtzuerhalten ist. Freiheit, so Taylor, sei “eine Praxis steuernder Kontrolle über das eigene Leben”, das heißt: Sie ist nicht einfach vorhanden und gleichsam frei verfügbar, sondern eine “Fähigkeit, die wir zu verwirklichen haben”. Sie besteht eben nicht in der Abwesenheit äußerer Hindernisse, sondern darin, dass wir bestimmten Zielen, auf die hin sie ausgerichtet ist, eine größere Bedeutung beimessen als anderen.
Nordkorea zum Beispiel ist nicht deswegen ein liberaleres Land als Frankreich, weil die Freiheit der Autofahrer in Pyöngyang in Ermangelung von Ampeln größer wäre als die der Autofahrer in Paris - denn obwohl die persönliche Freiheit des Autofahrers in Paris täglich vor roten Ampeln kapituliert, nehmen wir ihren Verlust gleichmütiger hin als das Verbot, uns alle 1461 Tage eine neue Regierung wählen zu dürfen. Und so in allem: Es ist nicht egal, ob ich meine musischen Talente sorgsam schule oder bei “Deutschland sucht den Superstar” erprobe. Es ist nicht egal, ob ich bei einem Drogeriemarkt einkaufe, der seine Mitarbeiter anständig bezahlt und behandelt - oder beim Ausbeuter nebenan.
Die dreifache Rolle des Liberalismus
Echte Freiheit ist echte Wahlfreiheit. Sie setzt nicht nur Optionen voraus, die ich ergreifen kann oder nicht, sondern die dreifache Fertigkeit, sie zu ergreifen, ihren Wert einzuschätzen - und meiner Entscheidung für die eine oder andere Option einen Sinn beizumischen. Selbst Mill hatte letztlich keinen Zweifel daran, dass Freiheit eine Richtung haben muss - und es ist schlimm, dass so viele seiner “liberalen” Apologeten sich bis heute hartnäckig weigern, das anzuerkennen. Tatsächlich sind “Individualität und Entwicklung” für Mill ein und dasselbe - allein ihre Pflege, schreibt er, bringe “wohl entwickelte menschliche Wesen” hervor. Allen freiheitsfähigen Charakterköpfen rät er, den anderen “ein Beispiel zu geben für aufgeklärte Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben“. Und natürlich hält er “Rat“, “Belehrung”, “Tadel”, ja sogar “Überredung” für geeignete Mittel, um die Denkfaulen, Antriebsarmen und Freiheitsmüden auf Kurs zu bringen.
Entsprechend fällt dem Liberalismus heute die dreifache Rolle zu, das Prinzip des Eigentums global und generationenübergreifend zu denken, das Prinzip der Sorge pädagogisch auf die Spitze zu treiben - und das Prinzip der Freiheit zugleich so entschlossen wie irgend möglich gegen politische Nivellierungsversuche zu verteidigen. Der Liberalismus der Zukunft muss einerseits radikal aufklärerisch sein - und uns in aller Deutlichkeit über den Unterschied informieren, den es für uns und unsere Nachfahren macht, einen 15-Liter-SUV oder einen Drei-Liter-Polo zu fahren. Und er muss andererseits die Freiheit derer schützen, die nicht immer nur Kürbis vom Bio-Bauern nebenan essen wollen, sondern auch mal eine Flugananas - und sei diese Wahl noch so vernunftfrei. Er darf uns jederzeit auf die volkswirtschaftliche Bedeutung eines naturwissenschaftlichen Studiums hinweisen, muss sich aber zugleich seine Sympathie erhalten für all die Träumer und Taugenichtse, die ihr Leben auf eigene Rechnung während eines “ewigen Sonntags” vertändeln (Eichendorff). Es ist am Liberalismus, uns täglich daran zu erinnern, dass jede Einschränkung der individuellen Freiheit gut begründet werden muss - und nicht umgekehrt: dass jede Freiheit, die man sich nimmt, sogleich unter Verdacht gestellt werden darf, andere zu schädigen.
Seiner Pflicht indes, einer umfassend gedachten und verantwortungsvoll ergriffenen Freiheit einen höheren Wert beizumessen als einer an Geld, Genuss oder Zukunftsvergessenheit verschwendeten, ist der Liberalismus damit keineswegs enthoben. Zu Mills Zeiten mochte es wohl sein, dass der “Verlust an Achtung” Strafe genug war für jemanden, der seine Freiheit vergeudete und seiner Verantwortung entfloh. Heute kann sich jeder seinem Achtungsverlust und seiner Haftung entziehen und dabei auf den Beifall seiner peer group zählen - sei es in einer Straßengang oder in einem tropischen Steuerparadies.
Eine liberale Wirtschaftspolitik zeichnet sich deshalb nicht dadurch aus, möglichst viele Anreize zu setzen und möglichst wenig Verbote auszusprechen, sondern dadurch, dass sie gut begründen kann, warum sie sich von Fall zu Fall einmischt. Tabu, wie gesagt, sind allein Maßnahmen der allgemeinen Preis- und Lohnbindung - sie zerstören das Fundament der Marktwirtschaft, deren überragende Vorzüge heute Gott sei Dank so evident sind, dass sie keiner weiteren Erklärung bedürfen.
Zur Sicherung der Freiheit und Marktwirtschaft in der Moderne aber gehört ein Eigentumsbegriff, der auf Erhaltung statt Expansion, auf Sicherung statt Säumigkeit und auf Verantwortung statt Vergeudung setzt, also eine Ordnungspolitik, die uns befähigt, unsere Freiheit dauerhaft, sinnvoll und generationenübergreifend ausüben zu können. Geldwertstabilität, Schuldenabbau, Bildungsgerechtigkeit und Lohnuntergrenzen gehören daher genauso zu ihren Prämissen wie die ein Sozialstaat, der seine Fürsorge auf Härtefälle konzentriert, die konsequente Einrechnung von Umweltkosten - und natürlich die rigorose Durchsetzung des Haftungsprinzips für alle am Markt eingegangenen Risiken. Anders gesagt: Eine liberale Wirtschaftspolitik zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie durch Tatenlosigkeit “Systemrisiken” erzeugt, die politische “Alternativlosigkeiten” zur Folge haben, sondern dadurch, dass sie auf die größtmögliche Abwesenheit von Zwängen besteht - und unseren Nachkommen die Freiheit erhält, sie wahrnehmen zu können.
Wir sind überzeugt, dass die Wahlniederlage der FDP nicht das Ende des politischen Liberalismus bedeuten darf. Die WirtschaftsWoche will darum an dieser Stelle der Freiheit ein Forum geben. Wir werden hier Beiträge unserer Redakteure ebenso veröffentlichen wie solche von Gästen. Wir freuen uns, wenn Sie als mündige, freie Bürger auf unserem Online-Forum öffentlich das Wort ergreifen. Was bedeutet heute Freiheit? Wo ist sie durch den Staat gefährdet? Und wie sollte eine liberale Partei aussehen? Schreiben Sie uns unter www.wiwo.de/forumderfreiheit