Wie emphatisch die Erklärung der Unabhängigkeit damals als „Freiheit zum Ich“ und als „Verantwortung zur Besitzergreifung“ der eigenen Persönlichkeit aufgefasst wird - davon gibt in jenen Jahren vor allem Immanuel Kant eindrucksvoll Zeugnis ab. Freiheit, so der Königsberger Philosoph in seiner berühmten Antwort auf die Frage, was „Aufklärung“ sei, beinhalte nicht nur das Recht auf eine eigene Meinung und Selbsttätigkeit, sondern auch die Pflicht, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen“ zu bedienen. Kant macht darauf aufmerksam, dass echter Freiheit ein Zwang innewohnt: Sie will ergriffen werden und gekonnt sein. Die Freiheit, die er meint, besteht darin, dass wir unser Denken und Handeln autonom bestimmen können - und müssen. „Sapere Aude!“, ruft der Königsberger Philosoph 1784 seinen Mitmenschen zu: Findet endlich einen Weg raus aus eurer selbstverschuldeten Unmündigkeit!
Kant ist ganz hingerissen vom Ethos eines unternehmenden Selbstdenkens, das sich nicht an fixiertem Wissen orientiert und nach katalogisierbaren Wahrheiten Ausschau hält, sondern den bunten Widerstreit von Perspektiven und Sichtweisen auf Dauer stellt. Die Pluralität der Meinung, die mit der Ausbildung individueller Freiheiten einher geht, scheint ihm der rechte Impfstoff zu sein gegen den dogmatischen Rationalismus vieler rechtgläubiger Aufklärer. Kant wendet sich entschieden gegen die Apodiktik derer, die sich allein im Besitz der Vernunft wähnen, ganz gleich, ob sich ein Monarch mit ihr ausgestattet meint oder eine demokratische Wissensgesellschaft. Ohne Vielfalt, Fülle und Farbigkeit der Gedanken, Urteile und Tätigkeiten, so Kant im Vierten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), ohne Streit, Einspruch und Widerrede „würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“ - und „die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sei weiden… ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat“.
Die französische Revolution lehrt die liberalen Aufklärer fünf Jahre später, dass die Freunde der Vielfalt im Arkadien der Gleichheit jederzeit Gefahr laufen, so lange guillotiniert zu werden, bis auch sie sich zu Schafen erklären. Der jakobinische Terror fährt den Liberalen wie ein Schock in die Glieder. Fassungslos verfolgen sie, wie die Verheißung der Freiheit sich in eine „Tyrannei der Mehrheit“ (so Alexis de Tocqueville, 1840) verwandelt - und wie ihre emphatische Gleichheitsidee zum Pleonasmus einer „Volksdemokratie“ verkommt, die einer Herrschaftsclique den Vorwand liefert, im Namen aller despotisch zu sein.
In der Folge (ver-)schärft der Liberalismus nicht nur seine traditionellen Positionen; er gewinnt auch dezidiert politische, kulturkritische und demokratiedefensive Züge. Die Meinung, dass das Volk es nicht nötig habe, seine Macht über sich selbst zu beschränken, ist dahin; die heroische Abwehr von Uniformität, Kongruenz, Gleichklang, Zentralsteuerung und Majoritätsmacht steht künftig im Zentrum liberaler Überlegungen. Die vorrangige Aufgabe von Staat und Regierung bestehe nicht etwa darin, den Mehrheitswillen durchzusetzen und die „Stimme des Volkes“ institutionell zu verkörpern, sondern ganz im Gegenteil: im Erhalt der Meinungsvielfalt und im Schutz von Minderheiten, in der Verteidigung der Vielfalt und in der Stärkung von Familien, Vereinen, Körperschaften, Gemeinden, föderalen Strukturen und kleinen Einheiten.
Unter dem Eindruck der heraufziehenden Massendemokratie und aus Angst vor dem Diktat des „vorherrschenden Meinens und Empfindens“ (John Stuart Mill), in der entschiedenen Abwehr jeder noch so gut gemeinten staatlichen Vormundschaft und zum Schutz der individuellen Freiräume gegen eine egalisierende Politik, die die Menschen ihrer Selbsttätigkeit entwöhnt und zu funktionierenden Maschinenwesen erniedrigt, wird das klassische Repertoire des Liberalismus - unveräußerliche Menschenrechte, individuelle Freiheit, Eigentümlichkeit, Rechtssicherheit - im 19. Jahrhundert durch pädagogische Inhalte, republikanische Elemente und ein Set von Bürgertugenden ergänzt. Dahinter steht die Befürchtung, dass der „Mangel an Reife zur Freiheit“ mit einem „Mangel intellektueller und moralischer Kräfte“ (Wilhelm von Humboldt, 1792) korrespondiert - und dass „die allgemeine Tendenz in der ganzen Welt… dahin“ geht, die „Mittelmäßigkeit zur überlegenen Macht unter den Menschen zu machen“ (Mill). Theoretisch bleiben die Liberalen felsenfest: Der demokratische Wille ist und bleibt ein Aggregat pluraler Ansprüche und persönlicher Interessen - und die Freiheit an sich ein Wert, der keiner positiven Bestimmung bedarf. Als gute Soziologen aber erkennen die Liberalen zugleich, dass die Willensbildung sich in einer modernen Demokratie in einem anonymen, „gesellschaftlichen“ Prozess vollzieht - und rufen zur Befestigung der Freiheit die Tradition (Edmund Burke), die Bildung, die Religion (Wilhelm von Humboldt), das vorbildhafte Beispiel (Mill), das Subsidiaritätsprinzip (Alexis de Tocqueville) sowie die Pflege der Sitten und Gebräuche zu Hilfe.
Wilhelm von Humboldt gibt in seinem „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792) den Ton vor: „Je mehr… der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte“, so seine Warnung - „allein was der Mensch beabsichtet und beabsichten muss, ist ganz etwas andres, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit.“ Humboldt fürchtet, dass seine Zeitgenossen sich von dem Gedanken erhoben fühlen, „Glieder eines Ganzen zu sein“ - bereit, sich entwürdigen zu lassen als des Staates „Haufe ernährter Sklaven“. Mit viel Pathos erinnert er an den „wahren Zweck“ des Menschen: „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte“ - und daran, dass dazu „Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung“ sei.