Solange der “Preismechanismus” und das “Konkurrenzprinzip” nicht angetastet würden, so Müller-Armack, seien staatliche Eingriffe in die Marktwirtschaft durchaus kein Problem. Einen “direkten Einkommensausgleich” im Wege der Besteuerung und eine Verteilung der “einlaufenden Beiträge etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen [und] Mietzuschüssen“ hält er geradezu für den “Idealfall eines marktgerechten Eingriffs”. Und natürlich hat er auch nichts dagegen, “eine staatliche Mindestlohnhöhe zu normieren…, um willkürliche Einzellohnsenkungen zu vermeiden” - schließlich stören nicht “Ordnungstaxen” den Marktmechanismus, sondern Dumpinglöhne.
Genau 65 Jahre sind vergangen, seit Müller-Armack seine Gedanken zu Papier brachte. Eine lange Zeit. Und doch nur ein Wimpernschlag verglichen mit der Unendlichkeit, die sein Versuch einer Widerbelebung des Liberalismus von der Bonn-Berliner Realpolitik trennt. Die Liberalen haben der Politisierung des Geldes nicht widerstanden und den Respekt vor dem hohen Gut seiner Wertbeständigkeit verloren. Sie haben die Kreditexpansion geduldet, Schulden angehäuft und die Befriedigung eines Kapitalbedarfs gefördert, der sich aus den giftigen Quellen der Inflation und des Steuerzwanges speist. Sie haben durch ostentative ordnungspolitische Passivität den Aufbau eines Bankensektors gefördert, der seine Risiken systematisch auslagert, seine Verluste sozialisiert und alle Haftung beim Steuerzahler ablädt.
Sie haben die Konzentration der Energieversorgung protegiert und die Folgekosten der Atomstromerzeugung dem Staat aufgebürdet. Vor allem aber haben sie willenlos zugesehen, wie sich in Deutschland eine “Angestelltengesellschaft” formiert hat, „deren zentraler Wirtschaftsbegriff das Geldeinkommen und nicht das Eigentum ist“ (Röpke), eine Managerkaste, die ihren Boni mehr Wert beimisst als dem langfristigen Firmenerfolg, eine Unternehmenslandschaft, die vor allem ihrer Eigner (Aktionäre) prämiert und nicht so sehr ihre Mitarbeiter und Kunden - und schließlich: ein ganzes Heer vor Arbeitslosen und Niedriglöhnern, die abhängig sind von der „Stallfütterung“ des Staates. Tatsächlich hat ausgerechnet der Liberalismus mit seiner emphatischen Freiheits- und Eigentumsidee beinah‘ teilnahmslos zugesehen, wie ein neues Dienstleistungsproletariat entstand, das in einem Kreislauf aus „Reservenlosigkeit“, „Wurzellosigkeit“ und „Abhängigkeit“ gefangen ist, ohne “begründete Hoffnung, aus diesem Geleise herauszukommen“, ohne Chance auf wirtschaftliche Unabhängigkeit, ein bisschen Sparvermögen und “bescheidenes, aber Ankerfunktion versehendes Eigentum” - chronisch anfällig für “Mythen, `Programme` und soziale Erlösungslehren“ (Röpke).
Damit nicht genug, sind über die politpraktischen Defizite des Liberalismus hinaus seit Röpkes und Müller-Armacks Tagen auch seine theoretischen Fundamente zunehmend morsch geworden: Der klassische Eigentumsbegriff steht heute genauso in Frage wie das philosophische Konzept einer “negativen” Freiheit, also einer persönlichen Freiheit, die vollkommen unbestimmt ist und ihren Träger (den Menschen) zu nichts verpflichtet.