Marion Jansen ist Direktorin für Handel und Landwirtschaft bei der OECD in Paris. Die Ökonomin stammt aus dem Grenzgebiet von Aachen, wuchs in den Niederlanden auf, studierte in Frankreich und Deutschland und promovierte in Spanien. Zu den beruflichen Zwischenstationen von Jansen zählen unter anderem die Welthandelsorganisation (WTO) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO).
WirtschaftsWoche: Lange Lieferzeiten, leere Supermarktregale, all das kannten die Bundesbürger schon lange nicht mehr. Was ist los mit dem Welthandel, Frau Jansen?
Marion Jansen: Der Welthandel leidet unter Spannungen, wie ich sie in meinen inzwischen 20 Jahren bei der OECD als Handelsbeauftragte noch nicht erlebt habe.
Was sind die Ursachen für die Turbulenzen?
Da sind zunächst die aktuellen Probleme, die sich durch die Coronakrise ergeben. Gerade in China kommt es durch die strenge No-Covid-Politik immer wieder zu umfassenden Werks- und Hafenschließungen. Das wirbelt die fein abgestimmten Lieferströme durcheinander. Das sorgt auch dafür, dass Container plötzlich absolute Mangelware sind und die Frachtraten in die Höhe schießen. Aber es gibt noch andere Folgen der Pandemie, die den Welthandel irritieren.
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Nämlich?
Dass sich die Struktur der gehandelten Waren so plötzlich ändert. So steigt die Nachfrage nach Medizin- und Pharmaprodukten steil an. Auch elektronische Güter sind wegen der verbreiteten Homeoffice-Arbeit sehr gefragt. Auf der anderen Seite sorgt der Einbruch im Reiseverkehr und Tourismus etwa bei Flugzeugteilen für einen massiven Rückgang. Auch der Handel mit Fahrzeugen hat in der Pandemie gelitten.
Und darauf kann sich die Wirtschaft nicht schnell genug einstellen?
Die Struktur der Handelsgüter und -ströme ändert sich ständig. Aber das derzeitige Tempo ist atemberaubend. Der Wandel findet im Zeitraffer statt. In einem Jahr ändert sich so viel wie zuvor in fünf Jahren. Das sorgt für eine globale Verwirrung im Handel.
Hat der Handel denn den Corona-Einbruch insbesondere zu Beginn der Pandemie 2020 überwunden?
Das Handelsvolumen hat sich rasch wieder erholt, zunächst in Asien, später dann in Europa und den USA. Inzwischen nimmt die Bedeutung des Warenaustauschs für die globale Wirtschaft sogar noch über das Vorkrisenniveau zu. Exportweltmeister China hat seinen Anteil an globalen Exporten während der Pandemie von zeitweilig 10 auf 15 Prozent gesteigert. Inzwischen ist der Anteil bei 13 Prozent.
Trotz zeitweiliger Sperrung chinesischer Häfen? Wie das?
In den USA steigt der Konsum, und das führt zu weiteren Importen gerade aus China.
Und das, obwohl die US-Regierung sowohl unter Donald Trump als auch unter Joe Biden auf Distanz zu China geht?
Das politische Bemühen um ein Decoupling der Wirtschaft lässt sich jedenfalls nicht an den tatsächlichen Handelsströmen ablesen.
Droht da nicht der nächste Großkonflikt, indem Washington protektionistische Maßnahmen gegen das wachsende Handelsdefizit gegenüber dem Rivalen China ergreift?
Damit schneiden Sie das nächste Spannungsfeld an. Wir beobachten eine zunehmende Verknüpfung handelspolitischer mit geopolitischen Zielsetzungen. Der amerikanische Forced Labour Prevention Act zum Beispiel zielt darauf ab, keine chinesischen Waren mehr zu kaufen, die von chinesischen Minderheiten wie den Uiguren möglicherweise unter Zwang produziert werden.
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Dafür setzt China etwa Litauen unter Druck, weil Peking darauf besteht, dass Taiwan auch dort offiziell nur unter dem Namen Chinese Taipei auftreten dürfe.
Oder schauen sie sich den Halbleiterkonflikt der USA und Europäer mit China an.
Oder den Streit um russische Gaslieferungen nach Deutschland.
Es scheint immer schwieriger zu werden, Wirtschaft und Politik voneinander zu trennen. Den Preis müssen die Unternehmen und letztlich die Verbraucher über höhere Preise bezahlen.
Können Sie die politischen Kosten für den Welthandel beziffern?
Die Weltbank hat kürzlich in einer Studie gezeigt, dass uns das unsicherere wirtschaftspolitische Umfeld seit Mitte 2018 etwa ein Prozent des Welthandelsvolumens gekostet hat. Falls die Welt wieder in politische Blöcke verfällt, wären die Folgen für den Handel erheblich.
Wo bleibt das Positive?
Die Wirtschaft hat gelernt, mit globalen Schocks besser umzugehen. Das liegt vor allem daran, dass die Unternehmen ihr Risikomanagement nach der Weltfinanzkrise in den Nuller Jahren entwickelt haben.
Können Sie schon Anpassungsreaktionen der Wirtschaft auf den Corona-Schock erkennen?
Eine Verlagerung von Teilen der Produktion, um Lieferprobleme zu vermeiden, wird vielerorts in Betracht gezogen, ist allerdings noch nicht sichtbar in den Daten. Auch versuchen viele Unternehmen, sich einen zeitlichen Puffer beziehungsweise Reserven anzulegen. Nach Just-in-Time geht es also um Just-in-Case.
Aber, um einen Satz von Sepp Herberger abzuwandeln: Nach der Krise ist vor der Krise. Drohen durch die Klimaschutzpolitik der Europäer, die an der EU-Außengrenze künftig Schutzzölle gegen schmutzigen Stahl oder Zement beinhalten soll, ein neuer Handelsstreit mit China oder den USA?
Es liegt an den Politikern, Klimaschutz und Handel zu verbinden. Es muss also nicht zu einem Klimahandelskrieg kommen …
… wenn es einen Klimaklub der führenden Industrie- und Schwellenländer gibt. Die Idee hat Bundeskanzler Olaf Scholz vor einigen Monaten eingebracht, als er noch Bundesfinanzminister war. Was halten Sie davon?
Ein Klimaklub kann eine große Chance bedeuten. Wobei das Wort Klub nicht die Bedeutung von Exklusivität haben darf. Je mehr Länder in diesem Klub mitmachen und sich an bestimmte Klimaschutzvorgaben wie eine CO2-Bepreisung halten, desto besser für den Handel und das Klima.
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Allerdings gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Die EU will beispielsweise einschneidendere Maßnahmen ergreifen als China oder Indien. Wie will man da alle Vorstellungen unter einen Hut bringen?
Die internationale Verständigung auf eine globale Mindestbesteuerung wurde bis vor kurzem noch für unmöglich gehalten. Und nun haben sich 137 Länder dazu verpflichtet. Das zeigt mir, dass auch eine Einigung auf internationale Klimaschutzstandards möglich sein kann.
Würde die OECD wie bei der Mindestbesteuerung eine Rolle als Vermittler übernehmen?
OECD-Generalsekretär Mathias Cormann hat dies bereits angeboten. Ich bin sicher, dass wir dazu in der Lage sind, wenn wir das Mandat dafür bekommen.
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