Loyalität und Liberallala Warum niemand FDP-Chef Lindner herausfordert

Die Worte Krise und FDP gehören zusammen, seitdem Lindner im November 2017 erklärte, nicht falsch regieren zu wollen. Quelle: dpa

Die Liberalen kommen nicht aus dem Umfragetief. Hinter Parteichef Christian Lindner schärft die nächste Generation der FDP ihr Profil. Aber keiner wagt den Aufstand. Warum nicht?

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Manchmal wirken Fotos so herrlich entlarvend, man hätte sie mit den eigenen Vorurteilen nicht besser malen können. Das Foto, auf dem FDP-Chef Christian Lindner im Eingang eines Berliner Promilokals einen befreundeten Unternehmer und Honorarkonsul von Weißrussland herzt, ist so eines. Auf den ersten Blick zumindest.

Auf den zweiten könnte man zum Schluss kommen, dass auch Politiker ein Privatleben und das Recht auf dumme Fehler verdienen. Selbst wenn dieser Fehler nicht gerade die Glaubwürdigkeit der liberalen Lockerungsargumente stärkt, in Coronazeiten doch endlich auf mündige Bürger zu vertrauen.

Ob es zum zweiten Blick kommt, hängt am Grad der Voreingenommenheit des Betrachters. Und in Lindners Fall blieb es oft beim ersten. Was damit zu tun hat, dass er zuletzt in eine der weniger schmeichelhaften Schubladen gerutscht war, in die Politiker in der öffentlichen Wahrnehmung rutschen können: in die Warum-ist-der-eigentlich-noch-da-Schublade. Es geht nicht mehr um Lindners einen Fehler. Es geht um die Fehler.

Auch wohlgesinnte Beobachter rätseln, was da eigentlich los ist bei den Liberalen. Warum begehrt keiner auf? Warum drängt es niemanden aus der zweiten Reihe an die Spitze der Partei? Ist FDP-Chef etwa nicht das schönste Amt neben dem Papst.

Zugegeben, das ist etwas arg zugespitzt. Die Worte Krise und FDP jedoch gehören zusammen, seitdem Lindner im November 2017 erklärte, nicht falsch regieren zu wollen. Seither schreibt sich die Erzählung vom instinktlosen Jamaika-Aus durch stetige Wiederholung wie von allein. Dabei kann ehrlicherweise niemand sagen, ob die Kritik heute nicht noch lauter und Umfragen von fünf bis sechs Prozent nicht noch schlechter wären, säße Lindner jetzt als Vizekanzler im Finanzministerium, ständig mahnend, die schwarz-grünen Etatisten mögen es doch bitte nicht übertreiben mit dem Umbau der Republik.

An der Ursünde der Misere bleiben also Zweifel. In der Partei ist Lindners Jamaika-Entscheidung allein jedenfalls kein Grund für eine bürgerliche Revolution. Aber da war ja noch ein bisschen mehr: Zuallererst eine Klimakrise, die die Liberalen überraschte. Inhaltlich und rhetorisch überfordert trafen sie auf eine politisierte Schülerschaft, die unter Generationengerechtigkeit mehr versteht als ein Moratorium auf Rentenerhöhungen. Es folgten eine misslungene Europawahl, mäßig erfolgreiche Landtagswahlen – und Thomas Kemmerichs erster Streich.

In den Chaostagen von Thüringen, als Lindner erst im zweiten Anlauf den liberalen Kurzzeit-Ministerpräsidenten zum Rücktritt bewegte, hob sich zum ersten Mal seit 2013 für einen kurzen Augenblick der Vorhang hinter der One-Man-Show und offenbarte den Blick auf eine FDP ohne ihn. Aber wirklich nur kurz.

Warum? Nun, weil außer Christian Lindner kein FDP-Politiker bundesweit wirklich bekannt ist. Wenn, dann noch Wolfgang Kubicki, der zwar meinungsstark für sich spricht, aber eher selten für die Partei. Bitter für die Betroffenen, aber wer nicht Politikerkarrieren studiert wie andere ein Kicker-Sonderheft, wird die Vize-Vorsitzenden der FDP erstmal googlen müssen.

Kein Wunder: Die altbekannte Garde der Brüderles und Niebels ist lange weg. Und die neue Riege durchaus fähiger Politiker muss noch etliche Zehn-Sekunden-Statements für die Tagesschau abgeben, bis sich Name und Gesicht wirklich im kollektiven Kurzzeitgedächtnis der Nation festgesetzt haben. Wer jetzt für die FDP im Bundestag sitzt, hat das vor allem Lindner zu verdanken.

Das gilt zum Beispiel auch für Johannes Vogel und Konstantin Kuhle, zwei Namen, die nur politisch Interessierten langsam etwas sagen. Vogel, 38, Arbeitsmarktexperte und Sozialpolitiker, ist wie Lindner in Wermelskirchen im Bergischen Land aufgewachsen. Kuhle, 31, Rechtsanwalt und Innenpolitiker, hat seinen Wahlkreis in Göttingen. Beide lernten Bundespolitik als Vorsitzender der Jungen Liberalen, beide sind heute Generalsekretäre ihrer Landesverbände – und inszenieren sich als progressive Zwei-Mann-Zukunftskommission aus der zweiten Reihe.

Streng genommen gehören Vogel und Kuhle noch nicht einmal zur zweiten Reihe der FDP, sie sitzen weder im Fraktionsvorstand noch im Präsidium der Partei. Im politischen Berlin aber, jener Filterblase aus Journalisten, Parteifunktionären und Lobbyisten, die sich in Lindners politischer Erzählung vom normalen Rest der Republik entfremdet hat, spielt das keine Rolle.

Man muss nur die vielen netten Porträts über Kuhle lesen, die ihm den Ruf des idealtypischen Sozialliberalen so nonchalant verpassen, als sei es auch wirklich höchste Zeit, dass mal wieder ein „Linker“ in der FDP so einflussreich wird, wie es Gerhart Baum zu seinen besten Zeiten nie war. Als wären da nicht unzählige andere Liberale, die ebenfalls lieber über Bildung und Bürgerrechte sprechen als über Wirtschaftszahlen und Wachstumsimpulse. Kuhle betont zur Sicherheit jetzt häufiger, dass er kein Linker sei, „nur weil ich auf Twitter dreimal was gegen die AfD gesagt habe“.

Vogel wiederum hat Akzente abseits des Parteimainstreams schon früher gesetzt, im Bundestag von 2009 bis 2013, als die FDP außer mehr Netto vom Brutto wenig zu bieten hatte – und nicht einmal das in der Regierung durchsetzen konnte. In ähnlich wohlwollenden Artikeln über ihn forderte Vogel damals, die soziale Frage ernst zu nehmen und auch ein eher grün-urbanes Milieu ansprechen zu wollen. „Ausnahmetalent“, adelte ihn Ulf Poschardt in der „Welt“.
Vogel ist sich treu geblieben. Die Gastbeiträge von heute nehmen die Leitmotive wieder auf. Mal verteidigen er und Kuhle die soziale Marktwirtschaft für die Chancen, „als Gesellschaft über sich selbst hinauszuwachsen“. Dann fordern sie Einbürgerungsfeiern, die zur Symbolik eines modernen Einwanderungslands dazugehören müssten. Sie tasten sich in Milieus vor, in die Freie Demokraten sonst eher selten vorstoßen. Reichweitengewinn durch Empathie.

Warum Vogel und Kuhle gut ankommen

Dass Vogel und Kuhle – zumindest bei Journalisten – so gut ankommen, mag daran liegen, dass sie freier von Verantwortung agieren als die vielen Vizes über ihnen in Partei- und Fraktionshierarchie. Es mag aber auch daran liegen, dass sie in Stil und Substanz stets vor die Vergleichsfolie ihres Parteichefs gehalten werden – und langsam auffällt, dass zwischen ihnen und Christian Lindner mehr als die Standardabweichung liegt.

Kurzer Blick zurück: Thomas Kemmerichs zweiter Streich, der „Spaziergang“ mit Verschwörungsideologen und Rechtsextremen, erwischte die Parteifreunde in Berlin im denkbar schlechtesten Moment. Gerade hatten sie einen Lockerungskurs für die Coronakrise gefunden, hinter dem sich Bürgerrechts- wie Wirtschaftsliberale vereinen konnten. Jeder leise Zweifel an Lindner, so hieß es aus der Fraktion, sei vorerst verschwunden.

Und es schadete auch nicht, dass die Pandemie die Causa Kemmerich in kürzester Zeit in die Kategorie „Was macht eigentlich…?“ verdrängt hatte. Blöd nur, dass der diese Frage eben ziemlich schnell und eindeutig beantwortete: nichts Gutes. Da war er also wieder, der Vorwurf, die FDP fische am rechten Wählerrand, wolle der AfD die Wütenden und Wirren abluchsen, und lasse sich im Zweifel eben auch mit den Stimmen von Faschisten wie Björn Höcke an die Macht wählen.

Schon im Februar, als es Kemmerich übermannte, kratzte der Vorwurf am liberalen Selbstvertrauen, bei Vogel und Kuhle etwa ließ sich das gut auf ihren Instagram-Kanälen beobachten. Vogel sprach, spürbar mitgenommen, von „tiefen Wunden“, die es zu heilen gelte. Kuhle eilte von Termin zu Termin, suchte das Gespräch mit der Parteibasis.

Die Vorwürfe, nach rechts zu schielen, ließen sich wohl leichter entkräften, hätte die FDP-Spitze in den vergangenen zwei Jahren nicht selbst einen raunenden Populismus des gesunden Menschenverstands versucht und dabei immer mal wieder die Grenzen der Zuspitzung ausgereizt – vorneweg Christian Lindner selbst. Vor wenigen Wochen etwa sprach er über „Regieanweisungen aus der Regierung“, forderte „Mundschutz ja, Maulkörbe nein!“.

Man kann das natürlich so sagen. Kein Maulkorb nirgends, keine Regieanweisung der Regierung verbietet das. Man sollte sich dann nur nicht wundern, wenn sich Teile der interessierten Öffentlichkeit irritiert abwenden und an der bürgerlichen Ernsthaftigkeit liberaler Oppositionspolitik zweifeln. In der Pose des Aufklärers bedient der FDP-Vorsitzende die Ressentiments der selbst ernannten Querdenker und Systemskeptiker.

Es ist eine Art politisches Tontaubenschießen, das der Hobby-Jäger Lindner gerne betreibt: Er wirft etwas in den freien Raum, das niemand gesagt oder gefordert hat, eine Attrappe ohne Substanz – nur um anschließend zu beweisen, dass er formvollendet treffen kann. Vor Corona waren es die Grünen, denen Lindner wahlweise unterstellte, einen Kulturkampf gegen das Auto zu führen oder Schnitzel verbieten zu wollen.

Mit diesem Politikstil der Überzeichnung sind nicht alle einverstanden, aber mehr als vorsichtige Distanz zwischen den Zeilen ist von Vogel und Kuhle nicht zu hören. Eine kalkulierte Strategie, die mit voller Absicht auf eine vermutete Lücke rechts der Union zielt, will sowieso keiner in der Partei kennen. Das beruhigt und nimmt den Druck, eine sanfte Revolte probieren zu müssen. Schließlich gilt seit dem Ende der erst sieben Jahre zurückliegenden Ära der Arglist: Loyalität vor Kritik – und letztere bitte ausschließlich intern.

Entsprechend groß war die Empörung in der jüngsten Fraktionssitzung, weil eben doch Streit nach außen getragen wurde. Es ging um die Frage, ob Deutschland mehr minderjährige Flüchtlinge aus griechischen Lagern einfliegen solle. Einige drängten darauf, andere sorgten sich, das könnte zusätzliche Fluchtbewegungen auslösen. Ein Streit, der sich hervorragend eignet, um die FDP hinter Lindner noch einmal richtig zu sortieren.

Denn die zweite Reihe besteht mitnichten nur aus Vogel, Kuhle und ein paar anderen unter Linksliberalismus-Verdacht, wie etwa Klimaexperte Lukas Köhler, Verteidigungspolitikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann oder Fraktionsvize Alexander Graf Lambsdorff. Nein, es gibt noch eine andere Fraktion. Sie klingt wie Lindner, hat wenig Probleme mit ihm – und ist im Bundestag überall da zu finden, wo es in ihren Augen um die Gewinnerthemen der FDP geht: um Handwerk und Mittelstand, Haushalt und Finanzen, Steuern und Verkehr.

Es gibt darunter auch einige, die Vogels und Kuhles Impulse für irgendwie Liberallala halten. Also für sympathischen Wohlfühl-Liberalismus, der vielleicht dem Image guttut, aber am Markenkern vorbeizielt. Zu viel Moral, zu wenig Markt. Zu viel Habermas, zu wenig Hayek. Nichts, womit man wirklich punkten kann. Wichtig fürs Sortiment, ja. Aber mehr auch nicht.

Oliver Luksic, 40, FDP-Chef im Saarland, verkehrspolitischer Sprecher im Bundestag, hat sich bei der Aufklärung des Maut-Debakels verdient gemacht. Nur wenige Fachpolitiker kommen so häufig in den Medien vor wie er – mit kleinen Wirkungstreffern: Erst kritisiert Luksic tagelang den neuen Bußgeldkatalog für Autofahrer als unverhältnismäßig, dann kündigt Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) tatsächlich an, die Strafen für Raser abmildern zu wollen. Die Grünen toben, was Luksic umso mehr freut.

Luksic ist gut verdrahtet in der Fraktion, weiß genau, wer die Dinge ähnlich sieht. „Die FDP kann jetzt angesichts der aufkommenden schweren Rezession mit Wirtschafts- und Finanzkompetenz punkten“, sagt er. Was natürlich nicht heiße, dass man zu Datenschutz nichts mehr sagen solle. Auch Luksic will, wie Vogel und Kuhle, nicht in eine Ecke des Liberalismus gestellt werden – in seinem Fall in die andere. Das wäre, ehrlich gesagt, auch gar nicht so leicht. Als Saarländer denkt Luksic proeuropäisch qua Geburt, hat in Paris und London studiert, jetzt in Coronazeiten für eine offene Grenze gekämpft. Auf Twitter jedoch retweetete er auch schon Artikel des rechtskonservativen Portals „Tichys Einblick“ und den Nationalliberalen Rainer Zitelmann.

Andere Parteien hätten Flügel, sagt einer aus der Fraktionsführung der FDP, bei den Liberalen gebe es Meinungspluralismus. Grabenkämpfe? Fehlanzeige! Man kann das schon verstehen, einerseits. Es wäre ja auch seltsam, in der außerparlamentarischen Opposition stets den ganzheitlichen Liberalismus zu betonen, um sich, kaum zurück im Bundestag, wieder all seiner Verästelungen zu erfreuen.

Andererseits gibt es Fragen, die vielleicht keine tiefen Gräben reißen, die Fraktion aber stets in zwei Gruppen ähnlicher Zusammensetzung trennen. Gerade ging es um Migration. Andere Beispiele: Welchen Preis wollen wir für den Zusammenhalt in der EU zahlen? Sollte Klimaschutz wirklich höchste Priorität haben? Anhand der Antworten entscheidet sich die Richtung. Irgendwann.

Johannes Vogel will neue Wählergruppen ansprechen, die Mediengestalterin in Berlin-Mitte und den Familienvater im Bochumer Reihenhaus genauso erreichen wie den Unternehmer im Ländle. Das ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, das ist ihm in NRW 2017 teilweise bereits gelungen.

Zweifel aber bleiben. Eine FDP auf Vogel-Kuhle-Kurs mag jenseits der Stammwählerschaft netter rüberkommen. Aber niemand wählt eine Partei, weil er sie nicht mehr ganz so unsympathisch findet wie vorher. Zumal unübersehbar ist, dass große Teile der FDP eben nicht so denken und sprechen wie Vogel und Kuhle, sondern eher wie Luksic. Und dessen neues Büchlein verriss ein Autor der Heimatzeitung des urbanen Milieus, der „Zeit“, indem er Luksic den „Cheftheoretiker des Nackensteak-Liberalismus“ taufte, weil der darin einige – zugegeben – gewagte Thesen zur Bedrohung der Demokratie durch „Ökologisten“ aufstellt. Mit diesem Image begeistert man die Progressiven nicht.

Parteichef Lindner wiederum sind die Mechanismen dessen, was jetzt hinter ihm passiert, nur allzu vertraut. Die Parallelen sind offensichtlich. Vor zehn Jahren war es der gerade gewählte Generalsekretär Lindner, dem Parteifreunde unterstellten, er sei ein Sozialliberaler. Das gehört bei der FDP wohl einfach dazu, wenn man jung, talentiert und zielstrebig ist. Mit Philipp Rösler und Daniel Bahr schrieb er einen Gastbeitrag für die „FAZ“, der einen Erneuerungsprozess anstoßen sollte. Seine erste Dreikönigsrede 2010 hielt er über die Aufstiegsorientierten, heute Vogels Lieblingsthema. Von da an galt Lindner bei Journalisten als potenzieller Nachfolger von Guido Westerwelle.

Über dessen Wandlung vom Oppositionsführer zum Außenminister schreibt Lindner in seinem Buch „Schattenjahre“, es sei zwangsläufig so, „dass sich Rollen und Reden verändern“. Er wird daraus seine Schlüsse gezogen haben.
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