Luftverschmutzung Deutsche Großstädte verpesten ihre Luft

Stuttgart ist die innovativste Großstadt Deutschlands und die grünste. Aber auch die mit der dreckigsten Luft. Wie passt das zusammen? Gar nicht. Also muss sich eine der Eigenschaften ändern. Und da liegt das Problem.

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Deutsche Großstädte im Feinstaubdilemma. Quelle: Getty Images, Illustration: Dmitri Broido

Fritz Kuhn ist es gewohnt, dass er die Dinge, die er kontrollieren will, auch kontrollieren kann. Also führt er den Journalisten, den er zu einem Interview empfängt, mit klaren Kommandos durch die Flure des Stuttgarter Rathauses. „Da vorne links, nein, nicht diese, die nächste Tür.“ Eintritt ins Vorzimmer, doch für Höflichkeiten lässt Kuhn, Oberbürgermeister dieser Stadt, keinen Raum. „Gerade durch müssen wir, die Türe ist schon offen, ja genau.“ Willkommen im Bürgermeisterbüro. „Sie sitzen hier“, ruft Kuhn und packt den Gast am Arm, eilt dann zu seinem Sprecher, den er ebenfalls einweist. Endlich, als alles unter Kontrolle ist, kommt auch der 61-Jährige etwas zur Ruhe. Gut so, schließlich soll er jetzt erklären, wie ihm das passieren konnte: dass er eine Sache offenbar nicht kontrollieren kann, obwohl er alles dafür tut. Die Sache mit der dreckigen Luft, dem Feinstaub und den Stickoxiden. „Stuttgart“, entfährt es Kuhn, halb Anfeuerungsruf, halb Stoßseufzer, „ist doch eine intelligente Stadt!“

Über die Intelligenz von Städten gibt es leider keine verlässlichen Zahlen, über Luftverschmutzung dafür umso mehr. Und die besagen: Stuttgart ist die Stadt mit der dreckigsten Luft Deutschlands. Sowohl die Menge von Feinstaub als auch die der Stickoxide ist an den Stuttgarter Messstellen höher als an allen anderen im Land. Der von der EU definierte Grenzwert für Feinstaub wurde hier im vergangenen Jahr an 63 Tagen überschritten, als zulässig und damit gesundheitlich gerade noch akzeptabel gelten 35 Tage mit überhöhten Werten.

Es ist nun aber weder Zufall noch der Ausdruck eines ökologischen Begeisterungsschubes, dass Stuttgart und nahezu alle anderen deutschen Großstädte ausgerechnet jetzt anfangen, das Thema ernst zu nehmen. Seit Jahren fordert die EU von Deutschland, endlich etwas gegen die verdreckte Luft zu tun. Doch passiert ist nichts. Von der erhöhten Belastung mit Feinstaub und Stickoxid las man vielleicht in der Presse, doch wahrgenommen wurde das eher als eine unterhaltende Art des Städtevergleichs. Von wegen: Schau mal, in Stuttgart ist die Luft inzwischen dreckiger als im Ruhrgebiet. Interessant, aber letztlich auch irrelevant.

Die ungesündesten Regionen zum Leben
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Geändert hat sich das erst, seit die Deutsche Umwelthilfe begann, reihenweise Städte zu verklagen, die den Grenzwert überschritten. Ende des vergangenen Jahres wurde mit Düsseldorf erstmals eine Gemeinde gerichtlich verpflichtet, Fahrverbote anzuordnen, falls sich die Luftqualität nicht verbessern sollte. Jetzt liegt das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht, und auf einmal ist die Nervosität groß: Sollte das Urteil dort Bestand haben, gälte es auch in allen anderen Städten des Landes.

Seitdem ist klar, dass die bis dahin bürokratische Diskussion drastisch konkrete Folgen haben kann. Für Stuttgart, so sagt Oberbürgermeister Kuhn, „ist 2017 die letzte Chance, um zu beweisen, dass wir auch ohne Verbote an unser Ziel kommen“. Sollte auch in diesem Jahr die Zahl der Tage mit erhöhten Feinstaubwerten deutlich über der Marke von 35 liegen, werden Stadt und Land aushandeln müssen, wie die Einhaltung dieser Grenze verbindlich erreicht werden kann. „Dann führt kaum ein Weg an verkehrsbeschänkenden Maßnahmen vorbei.“ Sagt Kuhn. Er und sein parteibefreundeter Ministerpräsident Winfried Kretschmann würden lieber eine blaue Plakette einführen, die nur noch modernste Dieselfahrzeuge in die Stadt ließe. Doch dafür sind sie leider nicht zuständig. Der Bund in Gestalt des Verkehrsministers jedoch sperrt sich.

Welche Schadstoffe im Abgas stecken

Welch ein Symbol das wäre: für Stuttgart, die Wiege des Automobilbaus, der Heimat von Bosch und Daimler. Und für Stuttgart, die einzige deutsche Metropole, in der ein Grüner regiert. Aber auch für Deutschland als Ganzes: Im Zentrum der weltweiten Autoindustrie hieße es dann plötzlich für die deutsche Lieblingstechnologie Dieselauto: Wir müssen draußen bleiben.

Die Belastungsgrenze für Feinstaub und Stickoxide wird in keiner einzigen US-Großstadt überschritten. Warum bekommen wir das nicht hin?

Alle(s) für das Auto

Die meisten Stuttgarter haben für die tristen Werte ihrer Stadt bei den Vergleichen der Luftqualität eine einfache Erklärung: der Kessel. Das stimmt, einerseits. Die Innenstadt liegt topografisch an einer besonders ungünstigen Stelle. Vom Neckartal zweigt hier ein nur wenige Kilometer langer Seitenarm ab, in dessen Mitte sich das Zentrum Stuttgarts befindet. Das gibt der Stadt das Antlitz eines antiken Theaters. Offen in Richtung Norden reihen sich auf den hohen Rängen die Villen in ihren Logenplätzen aneinander, unten spielt die Musik. Ähnlich dem Theater ist zudem, wie gut dieser Kessel gefüllt ist, mit Menschen, Häusern und Autos.

Die deutschen Städte mit der höchsten Stickoxid-Belastung

Der Stadt fehlt es deshalb an Frischluftschneisen, durch die der Wind hindurchwehen könnte. Entsprechend häufiger kommt es zu dem, was Meteorologen eine „austauscharme Wetterlage“ nennen. Lage ist in diesem Falle so zu verstehen, wie es im Polizistenjargon gemeint ist: als Problem. Die Autos tragen den Dreck über ihre Abgase und den Abrieb der Reifen rein in die Stadt, der Kessel lässt ihn nicht wieder raus. Die Luftbelastung steigt. Allein im Januar herrschte an 17 Tagen diese ungesunde Situation.

So weit die topografische Erklärung, von der manche, vor allem ortsfremde Kenner des Problems sagen, dass sie eher eine Ausrede ist. Schließlich, so die Stuttgarter, könnten sie an ihren Hügeln nichts ändern, und so schlimm wie in Peking sei es ja nun auch wieder nicht. Also rein in den Porsche Cayenne, frischen Koriander in der Markthalle besorgen und noch ein bisschen bummeln im Gerber. So heißt eines von zwei großen Einkaufszentren, die in den vergangenen Jahren in Stuttgart zusätzlich eröffnet worden sind, mitten im Kessel – und mit ihnen über 2000 neue Parkplätze.

Denn zur Stuttgarter Wahrheit gehört auch: So schlecht es um die Versorgung der Innenstadt mit frischer Luft steht, so gut ist sie mit dem Auto zu erreichen, falls die Straßen mal frei sind. „Wie viele deutsche Städte wurde Stuttgart in weiten Teilen nach dem Ideal der autogerechten Stadt gebaut“, sagt Oberbürgermeister Kuhn.

Immer wenn in Stuttgart eine heikle Wetterlage herrscht, ruft die Stadt

Breite Einfallstraßen, großzügige Parkflächen in der Stadt. Bei Kuhn klingt das nach Vergangenheit, der Zeit vor der großen Einsicht. Doch wer stadtpolitische Diskussionen, ob in Stuttgart oder anderswo, aufmerksam verfolgt, der merkt, dass diese Einsicht bis heute nur rhetorisch stattgefunden hat. Andere Mobilitätsformen werden zwar gefördert, aber nur als Ergänzung, nicht anstelle des Autoverkehrs. Alle freuen sich über neue Radwege, aber nur so lange, wie dafür die Straße nicht schmaler werden soll. Deshalb nennt Kuhn es ein „didaktisches Experiment“, was er da gerade in Stuttgart versucht.

Für die Dieselfahrer in der Stadt könnte man auch sagen: ihre Galgenfrist.

Für sein didaktisches Experiment setzt Kuhn deshalb alles ein, um die Bürger ohne Zwang zur Verhaltensänderung zu bewegen. Immer wenn in Stuttgart eine heikle Wetterlage herrscht, ruft die Stadt „Feinstaubalarm“ aus. Auf Autofahrten in die Stadt soll dann verzichtet werden, auch holzbefeuerte Kamine nur bei echtem Bedarf genutzt werden. Die Anreize dafür sind ziemlich hoch: Die Bahnen fahren häufiger, die Tickets kosten die Hälfte, auch die elektrische Carsharing-Flotte in der Stadt kann günstiger gemietet werden. Für den Oberbürgermeister ist es eine Gratwanderung: Im besten Falle gelingt es ihm, dass das Bestreben nach sauberer Luft zu einem gemeinsamen Anliegen wird. Im schlechteren lehnen sie es als Umerziehungsmaßnahme ab. Die Autofahrt am Alarmtag, sie würde im einen Falle zum Grund für ein schlechtes Gewissen, im anderen zum stolzen Akt zivilen Ungehorsams.

Die Doppelhaltung der Dieselkonzerne

Vom bisherigen Effekt der Kampagne kann Dieter Roßkopf sich mit einem einfachen Blick aus dem Fenster überzeugen. Roßkopf ist Chef des ADAC Württemberg, der wie als ironische Pointe zur ganzen Debatte seinen Sitz ausgerechnet dort hat, wo das Problem seinen Ursprung nimmt: am Neckartor, einem Platz am Rande der Innenstadt, den heute kein Tor mehr ziert, sondern die offizielle Feinstaub-Messstation der Stadt.

Grün, aber hilflos: OB Fritz Kuhn hofft auf Einsicht der Bürger – bisher vergeblich. Quelle: dpa

„Hier ist immer viel los, ob mit Feinstaubalarm oder ohne“, sagt Roßkopf, der das keineswegs als Prognose für den Erfolg des Feinstaubalarms verstanden wissen möchte. Sondern als Hinweis darauf, dass es nicht um einzelne Messwerte geht, sondern um etwas Größeres, ein gesellschaftliches Umdenken. „Selbst passionierte Autofahrer müssen doch erkennen, dass es keinen Sinn macht, mit dem Auto in die Stadt zu fahren“, sagt Roßkopf. Schließlich ist Stuttgart nicht nur Feinstaub-, sondern auch Stauhauptstadt. „Wer im Stau steht, darf sich nicht über die Autos um ihn herum ärgern, sondern muss einsehen: Der Stau, das bin ich selbst!“

Wer Roßkopf so reden hört, der muss sich bei jedem zweiten Satz ein wenig wundern, aber ja, der Mann vertritt tatsächlich den ADAC. Und so sieht er zumindest die Rolle der Autokonzerne in der Stadt so positiv, wie man das erwarten würde: „Die Unternehmen hier vor Ort tun wirklich viel, um ihre Mitarbeiter zum Umsteigen zu bewegen“, sagt Roßkopf.

Das Schweigen der Dieselkonzerne

Eines zumindest tun sie nicht: sich den Fragen der Öffentlichkeit stellen. Sowohl Bosch als auch Daimler, die beiden größten Arbeitgeber, lehnten ein Gespräch zum Thema ab und verschicken stattdessen ihre Pressemitteilungen. Dabei kommt den beiden Konzernen ebenso wie Porsche, dem dritten großen im Bunde, beim Wandel der Mobilität eine entscheidende Rolle zu. Das gilt nicht nur für das große Ganze, die Entwicklung emissionsfreier und bezahlbarer Antriebstechnologien, sondern auch für die konkrete Mobilität rund um Stuttgart. Allein Daimler beschäftigt im Großraum rund 80.000 Menschen in Werken, die fast ausnahmslos nur mit dem Auto halbwegs komfortabel zu erreichen sind, hinzu kommen Tausende Lieferanten, die täglich zwischen den Werken hin und her pendeln, sowie unzählige Testfahrten, die größtenteils auf den öffentlichen Straßen der Umgebung stattfinden. Doch so groß der Anteil der Konzerne am aktuellen Verkehrsaufkommen in der Stadt ist, so überschaubar bleibt ihr Beitrag für die Verringerung dessen.

Daimler-Mitarbeiter können seit Anfang des Jahres einen Zuschuss zum Nahverkehrsabo beantragen, eine Idee, die bei den allermeisten deutschen Großkonzernen längst eine Selbstverständlichkeit ist. Außerdem lässt man das Stadtgebiet Stuttgart bei Testfahrten an diesen Tagen außen vor. Bei Bosch wiederum können Mitarbeiter an den Alarmtagen ihren Firmenausweis als Fahrausweis gebrauchen. Das mag den einen oder anderen Pendler von der Straße locken, lässt dabei aber keine Missverständnisse aufkommen, dass es bitte die Ausnahme bleiben sollte. So nimmt gerade Daimler beim Wandel der städtischen Mobilität eine Doppelhaltung ein, die in ihrer Widersprüchlichkeit die Unentschiedenheit der gesamten Gesellschaft in dieser Frage spiegelt: Auf der einen Seite tut der Konzern gerade über seine Tochterfirmen car2go und Moovel einiges, um an der vernetzten und womöglich emissionsarmen Mobilität mitzuverdienen. Auf der anderen Seite will man diesen Wandel bei den eigenen Mitarbeitern auch nicht zu sehr beschleunigen. Solange der tägliche Pendler der zuverlässigste Kunde des guten alten Verbrennungsmotors ist, soll dessen Ruf auch nicht voreilig ruiniert werden. Oder, wie es ADAC-Mann Roßkopf in einem der seltenen Momente ausdrückt, in denen man ihm dann doch noch anmerkt, wessen Brot er isst: „Der Zweitwagen sollte elektrisch sein, das finde ich eine gute Forderung.“

Die unsichtbare Gefahr

Vor allem aber zeigen solche Abwägungen, dass das Thema Feinstaub in Stuttgart ebenso wie im Rest des Landes stets nur aus einer Perspektive diskutiert wird, nämlich der des Autofahrers oder sonstwie mobilen Menschen, der sich überlegen muss, wie er morgens und abends von und zur Arbeitsstelle kommt.

Abstrakte Gefahr

Dabei sind viele Stuttgarter ja nicht nur Kesseldurchfahrer, sondern auch Kesselbewohner. Es geht also nicht nur um ihre Fortbewegung, sondern auch um ihre Gesundheit. Zu den ersten Feinstaubprotesten, die eine Bürgerinitiative Ende des vergangenen Jahres veranstaltete, kamen trotzdem nur ein paar Hundert Menschen, kaum der Rede wert in einer demonstrationsfreudigen Stadt wie Stuttgart.

Mosernde Minderheit: Nur wenige Stuttgarter protestieren gegen Feinstaub. Quelle: dpa

„Die meisten Menschen sehen Feinstaub nicht als Gefahr, weil sie ihn nicht mit einem konkreten Krankheitsbild verbinden“, sagt Tobias Stöger, Lungenbiologe vom Helmholtzzentrum München. Stöger selbst hat gerade eben eine Studie veröffentlicht, die erstmals genau diesen Zusammenhang aufzeigt. Der Feinstaub, wie ihn Dieselmotoren ausstoßen oder er beim Reifenabrieb aufgewirbelt wird, gelangt vereinfacht gesagt über die Atemwege in die Lunge, lagert sich dort ab und verursacht eine Entzündung. Diese wiederum weckt schlafende, also inaktive Viren zum Beispiel bei Asthmatikern.

So weit der konkrete Zusammenhang zum grundsätzlicheren und schon seit Längerem bekannten Phänomen: Menschen, die viel Feinstaub einatmen, haben ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte.

Dass sich daraus dennoch anders als beim deutlich schlechter erforschten Pflanzengift Glyphosat bis heute keine Feinstaubpanik entwickelt hat, liegt wohl am vermeintlichen Widerspruch zum Alltagsempfinden. „Dieselmotoren stoßen heute nicht mehr die dunklen Wolken aus“, sagt Stöger, „die Abgasbelastung ist deshalb subjektiv gesunken.“

Zehn Fakten über den Dieselmotor
Der erste Direkteinspritzer: Fiat Croma Quelle: Presse
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Für die Gesundheitsgefahr aber spielt das nur eine untergeordnete Rolle: „Feinstaub ist nicht per se gefährlich“, sagt Stöger, „es sind vor allem die besonders kleinen Nanopartikel.“

Und von denen gibt es in modernen Dieselmotoren mindestens genauso viele, zum Teil sogar mehr als in den offensichtlichen Stinkern von einst.

Doch anstatt um die eigene Gesundheit drehen sich die Sorgen mancher Stuttgarter nach wie vor um deutlich abstraktere Bedrohungen. „Schon die Diskussion über Fahrverbote führt dazu, dass der Automobilstandort Baden-Württemberg Schaden nimmt“, warnt etwa Thomas Bareiß, Schwabe und energiepolitischer Sprecher der CDU im Bundestag. Er plädiert dafür, an besonders belasteten Kreuzungen Sprinkleranlagen anzubringen, die den Staub binden sollen, die städtische FDP verspricht sich Ähnliches von Moosteppichen an den Hauswänden der Hauptstraßen.

Aus solchen Vorschlägen spricht vor allem ein Wunsch, der dem geneigten Leser aus der Volkswagen-Affäre bekannt vorkommen könnte. Irgendwie den Messwert senken, auf dass die leidige Diskussion endlich wieder dort verschwinde, wo sie eigentlich hingehöre: in die Aktenordner der EU-Bürokraten.

Tal der Trittbrettfahrer

Letztlich führen solche Ablenkungsgefechte aber dazu, dass sich die Bewohner der intelligenten Stadt schlicht irrational verhalten. Man mag der Europäischen Union alles Mögliche unterstellen, Bürokratisches, Überflüssiges, Machtanmaßendes. Im Falle der Luftverschmutzung gilt es nicht. Die definierten Grenzwerte liegen noch deutlich über denen der Weltgesundheitsorganisation, erlauben also deutlich mehr Dreck. Vor allem ist der Nutznießer der Maßnahme ziemlich klar. Wenn die Belastung der Luft in Stuttgart sinkt, dann nutzt das einzig und allein den Stuttgartern selbst. Mit dem Maßstab des in der Ökonomie so beliebten rationalen Nutzenmaximierers betrachtet, wohnen im Tal Hunderttausende Trittbrettfahrer: Für jeden Einzelnen ist es deutlich praktischer, das Auto zu benutzen; denn wenn alle anderen drauf verzichten, sinkt die Luftbelastung auch ohne mich.

Was dem Berliner sein Veggie-Day ist, ist dem Schwaben sein Feinstaubalarm

Wolfgang Arnold kennt sich mit Trittbrettfahrern aus, schon beruflich, Und so wäre er der Erste, der es mitbekommen würde, wenn der Staub der Erkenntnis über das Tal rieseln würde. Arnold ist Chef der örtlichen Verkehrsbetriebe, wenn die Stuttgarter ihre Fortbewegungsart verändern, dann stehen sie sich zwangsläufig bald in Arnolds gelben Wagen auf den Füßen. Denn eine Ausrede muss man den Kesselbewohnern lassen: Das Fahrrad ist hier wirklich keine ernsthafte Alternative. Also bliebe die Straßenbahn. Arnold aber sagt einerseits: „Die Zahl der Fahrgäste steigt in Stuttgart seit Jahren in immer schnellerem Tempo.“ Aber andererseits auch: „Ob wir an Tagen mit Feinstaubalarm mehr Fahrgäste hätten, lässt sich nicht sagen.“ Zumindest augenscheinlich ist es nicht, räumt der Chef selbst ein. Eine erste Zählung im vergangenen Jahr ergab eine nur um drei Prozent höhere Auslastung der Bahnen. Zugleich dürfte sich die insgesamt steigende Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel schlicht dadurch erklären, dass immer mehr Menschen nach Stuttgart ziehen. Ob die Ortsansässigen selbst tatsächlich ihr Verhalten ändern, lässt sich kaum beantworten, die wenigen verfügbaren Zahlen kann man so oder so interpretieren. Straßenbahnchef Arnold stützt sich auf repräsentative Befragungen, die einen höheren Nutzungsanteil der Bahn zeigen, aber auch nur alle paar Jahre durchgeführt werden und eben nur ein paar zufällig ausgewählte und nicht alle Stuttgarter erfassen. Ihm widerspricht der Vergleich mit anderen Städten. So zählen die Verkehrsbetriebe im nahezu gleich großen Düsseldorf pro Jahr fast 20 Prozent mehr Fahrgäste als in Stuttgart. Und schon Düsseldorf gilt nicht gerade als Kapitale der ökologischen Bewegung.

So schwierig es Arnold fällt, das Umdenken in Sachen Mobilität herbeizureden, so geübt ist er darin, andere Schuldige zu benennen. Jahre der Feinstaubdebatte haben die gesamte Stadt in dieser Disziplin zur Meisterschaft getrieben. Die einen benennen die Komfortkamine, deren allein dem Zwecke der Gemütlichkeit dienende Ethanolflamme auch kräftig Feinstaub produziert. Andere erklären die hohe Luftbelastung in der gesamten Region mit der Ehrlichkeit ihrer Verwaltung: Hier messe man eben genauer als anderswo. Belege dafür gibt es keine.

Arnolds Schuldige sitzen ihm deutlich näher: „Damit die Luftbelastung wirklich sinkt, müssten die Menschen im Umland ihr Verhalten ändern.“ Sie trügen den Schmutz in den Kessel rein, ohne selbst darunter zu leiden. Dieses Argument macht sich auch Oberbürgermeister Kuhn zu eigen. Es mag das schlüssigste sein, es ist aber auch das tückischste. Denn so wird aus der Diskussion über Grenzwerte und Ticketpreise eine über Lebensentwürfe: Die fahrradfahrenden Stadtmenschen sind die Zukunft, die Doppelhaushälftenbewohner in der Vorstadt die Vergangenheit. Und aus der gemeinsamen Anstrengung für eine saubere Luft wird die nächste Belehrungskampagne.

Was dem Berliner sein Veggie-Day ist, ist dem Schwaben sein Feinstaubalarm. Von den 17 Tagen, an denen die Stadt Stuttgart im Jahr 2017 den Feinstaubalarm ausgerufen hat, wurde am Ende übrigens 17 Mal der Grenzwert überschritten. Einmal war die Belastung sogar höher als an Silvester. Mit didaktischen Experimenten ist das offenbar so eine Sache, gerade in einer intelligenten Stadt wie Stuttgart.

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