Marcel Fratzscher "Es gibt Wichtigeres, als Unternehmen zu entlasten"

DIW-Chef Marcel Fratzscher warnt vor Steuersenkungen und Wahlgeschenken. Wie der Ökonom die Überschüsse einsetzen würde – und warum er an eine europafreundliche Politik einer Jamaika-Koalition glaubt.

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Marcel Fratzscher. Quelle: dpa Picture-Alliance

Herr Fratzscher, Ihr Kollege Clemens Fuest vom ifo-Institut hat die künftige Regierung aufgefordert, die Steuern für Unternehmen zu senken. Eine gute Idee?
Nein, das halte ich für einen großen Fehler. In Deutschland liegt die Steuerbelastung für Unternehmen im Durchschnitt der Industrieländer. Außerdem fahren die deutschen Unternehmen derzeit Rekordgewinne ein. Ich sehe wichtigere Prioritäten als diese Unternehmen derzeit zu entlasten.

Zur Person

Es geht um internationale Wettbewerbsfähigkeit. Donald Trump will die Unternehmenssteuer auf 20 Prozent senken. Emmanuel Macron plant eine Reduzierung auf 25, Großbritannien gar auf 17 Prozent. In Deutschland liegt die Gesamtbelastung dagegen fast bei 30 Prozent…
Ja, aber in vielen nordischen Ländern liegt sie auch höher. Es kann gar keine Rede davon sein, dass die Unternehmen hier im Land Gefahr liefen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Man könnte ihnen aber trotzdem helfen. Und zwar mit gezielten Anreizen für Investitionen in Zukunftstechnologien oder Forschung und Entwicklung. Das Stichwort lautet: degressive Abschreibungen.

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von Donata Riedel

Fuest ist mit seinen Forderungen nicht allein.
Na klar. Jeder will jetzt von den Überschüssen des Fiskus einen möglichst dicken Happen abbekommen. Die Gutverdiener verlangen eine niedrigere Einkommenssteuer. Die Niedrigverdiener fordern geringere Sozialabgaben. Und die Unternehmer wollen eben an die Unternehmensbesteuerung ran. Das ist ein verständlicher Reflex. Ihm nachzugeben wäre allerdings ein ökonomischer Fehler.

Also stehen Deutschland vier Jahre des wirtschaftlichen Niedergangs bevor?
Nein. Wir durchleben gerade eine goldene Zeit. Und auch in den nächsten zwei, drei Jahren wird es der Wirtschaft in Deutschland hervorragend gehen, sofern uns keine Schocks von außen treffen. Das hat allerdings kaum etwas mit den politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre zu tun – und gar nichts mit den Wahlgeschenken, die demnächst wohl verteilt werden.

Wo der Staat sparen könnte
Platz 10: Computerspielesammlung Quelle: dpa
Platz 9: Kupferbergbau in Chile Quelle: dpa Picture-Alliance
Platz 8: Kostenlose Sprachkurse Quelle: dpa
Platz 7: Konfliktärmeres Fahrradfahren Quelle: dpa
Platz 6: Markenfleisch von Edeka Quelle: dpa
Platz 5: Grüne Moscheen in Marokko Quelle: dpa
Platz 4: Internationale Fernsehserien Quelle: dpa

Sondern?
Vor allem mit der guten globalen Konjunktur. Wie gesagt: Aus ökonomischer Sicht läuft es gesamtwirtschaftlich derzeit blendend. Gute Zeiten verleiten die Politik allerdings zur Faulheit. Wichtige Entscheidungen werden dann aufgeschoben. Stattdessen werden die Pfründe verteilt und Ansprüche ruhig gestellt. Aus dieser Sicht ist das Risiko groß, dass uns keine guten vier Jahre bevorstehen.

"Die FDP wird von ihrer Wahlkampfrhetorik abrücken"

Sie würden die Überschüsse lieber investieren, etwa in die Infrastruktur. In dem Bereich lehnt Clemens Fuest aber den flächendeckenden Glasfaser-Ausbau ab.
Auch das sehe ich anders. Richtig ist, dass man Prioritäten setzen muss. Da, wo der Bedarf besonders stark ist, muss es auch besonders schnell eine vernünftige Internetanbindung geben. Aber auf mittlere Frist muss der Glasfaser-Ausbau flächendeckend umgesetzt werden. Es gibt schon jetzt ein massives Nord-Süd-Gefälle. Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu. Das ist nicht bloß ein gesellschaftliches, sondern auch ein wirtschaftliches Problem.

Was muss die Regierung dagegen tun?
Die neue Bundesregierung sollte eine Investitionsoffensive in Bildung, Infrastruktur und Innovation umsetzen. Dazu gehört auch, den finanzschwachen Kommunen zu helfen, ihren Aufgaben gerecht zu werden, sodass zumindest eine weitere regionale Polarisierung verhindert wird.

Mehrwertsteuer-Senkung: Ja oder Nein?

Ein anderes entscheidendes Thema der nächsten Legislaturperiode wird die Europa-Politik sein. Im Gegensatz zu Clemens Fuest plädieren Sie für einen europäischen Finanzminister. Was glauben Sie: Welche Sichtweise wird sich in einer möglichen Jamaika-Koalition durchsetzen?
Das ist die große Frage derzeit. Ich persönlich glaube, dass die FDP demnächst von ihrer harten Wahlkampfrhetorik abrücken und sich stattdessen wieder auf ihre proeuropäischen Wurzeln besinnen wird. Die FDP reklamiert für sich immer eine hohe Wirtschaftskompetenz, also wird sie eine stärkere Integration Europas unterstützen. Und zu einem offenen Binnenmarkt gehören auch eine Bankenunion und die bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitik. Ich bin optimistisch, dass eine Jamaika-Koalition mehr für Europa tun wird als die vergangene Regierung.

Sind sie in den anderen Politikfeldern genauso optimistisch?
Leider Nein. Meine Befürchtung ist, dass man sich in den Koalitionsverhandlungen erst einmal kräftig etwas gönnt. Das wird so ähnlich laufen wie mit der Rente mit 63 und Mütterrente vor vier Jahren, nur diesmal hoch drei. Die wirklich wichtigen Themen wie Bildung, Infrastrukturausbau oder Digitalisierung könnten, dürfen aber dagegen nicht hinten runter fallen.

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von Thomas Schmelzer

Die FDP hat doch gerade mit diesen Themen Wahlkampf gemacht.
Absolut, aber jetzt geht es nicht mehr um Wahlkampf, sondern um harte Entscheidungen. In der Bildungspolitik etwa müssen auch die Länder befriedet werden. Es geht darum, dass sie mehr Transparenz akzeptieren und der Bund finanzschwache Kommunen bezuschussen darf. Ich würde mir wünschen, dass alle Parteien bei diesen Themen ihr Wort halten. Aber ich bin mir noch nicht so sicher, ob das auch passiert.

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