Martin Schulz Basiskontakt im Mondpalast

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hat seinen Wahlkampf an der Basis begonnen. In Herne, mitten im Ruhrgebiet. 500 Menschen kommen zu seinem Auftritt, viele sind begeistert. Doch entscheidend sind die Zweifler.

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SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz startete in Herne in den Bundestagswahlkampf. Quelle: dpa

Herne Im historischen Volkstheater in Wanne-Eickel scheint alles möglich. Wenn sich Roland und Julia, ein Schalke-Fan und eine Dortmund-Anhängerin, allen Widrigkeiten zum Trotz hier in einer Aufführung im Mondpalast verlieben können, warum dann nicht auch hier den Wahlkampfauftakt des – so hoffen die meisten Anwesenden in diesem Moment – nächsten sozialdemokratischen Bundeskanzlers ausrufen?

Mit Stolz in der Stimme und sichtlich euphorisiert begrüßt die SPD-Abgeordnete Michelle Müntefering die Anwesenden mit einem standesgemäßen „Glück auf“. Knapp 500 Menschen goutieren den traditionellen Bergmannsgruß mit lautem Applaus. Hier im Ruhrgebiet, dem einstigen Herzen der Sozialdemokratie, soll er also beginnen, der Neustart für die SPD.

Für Martin Schulz ist der Auftritt ein Heimspiel. Nicht nur weil seine Schwiegermutter in Wanne-Eickel geboren sei, wie er betont. Er braucht ein paar Minuten, aber dann besinnt Schulz sich auf seine Nordrhein-westfälischen Wurzeln und ist ganz da.

Anders als bei seinem Interview mit der Moderatorin Anne Will am vergangenen Sonntag wirkt Schulz im kleinerem Rahmen gelöst. Er spricht mit viel Nachdruck und aus Überzeugung. So wirkt es zumindest auf die Anwesenden. Die verfallen genau an den richtigen Stellen in lautes Klatschen. Etwa wenn Schulz davon spricht, dass das „hart arbeitende Volk“, das die „Republik und die Demokratie“ trage, auch etwas vom wirtschaftlichen Aufschwung haben sollte. Dass keiner zurückgelassen werde.

Das Wort „Gerechtigkeit“ hat der designierte SPD-Vorsitzende zu seinem Mantra erklärt. Mit dem Urgedanken der Sozialdemokratie will Martin Schulz die Wahl gewinnen.

Herne ist SPD-Hochburg. Bei der Bundestagswahl 2013 erhielten die Sozialdemokraten hier 44,2 Prozent der Zweitstimmen. Michelle Müntefering gewann mit 48,5 Prozent der Erststimmen das Direktmandat. Aber auch in der Stadt zwischen Dortmund, Bochum und Gelsenkirchen sind die Zeiten, als die Sozialdemokraten noch Zweidrittel-Mehrheiten erreichten, seit vielen Jahren vorbei.

Parteiinterne Skandale und Mitgliederschwund gefährden die Vormachtstellung der SPD im Revier. Zumal die AfD in der strukturschwachen Region aktiv auf Wählerfang bei den Genossen geht. All das soll Martin Schulz nun richten. Es ist der erste Besuch an der Basis, den Schulz, seit Montag vom Parteivorstand als Kanzlerkandidat nominiert, absolviert. Hunderte Neueintritte in die Partei gab es seither.


Geht die Luft aus?

In Nordrhein-Westfalen hofft man, wenige Wochen vor der Wahl von dem „Schulz-Effekt“ etwas abzubekommen. Und noch hält er an. In einer am Mittwoch veröffentlichten Forsa-Umfrage für den „Stern“ legten die Sozialdemokraten nach Schulz' Nominierung von 21 auf 26 Prozent zu und erreichten damit den höchsten Wert seit der Bundestagswahl 2013. In Herne gehen die Erinnerungen noch ein paar Jahre weiter zurück. Mit ihm, so der Herner Parteichef Alexander Vogt, sei die Stimmung zum ersten Mal wieder so positiv wie 1998, als Gerhard Schröder Helmut Kohl ablöste.

Dabei erzählt Martin Schulz nichts Neues. Steuergerechtigkeit, Lohngleichheit, Investitionen, Solidarität. All das hatte er bereits am Sonntag in seinem Interview gesagt. Genauso unkonkret und genauso floskelhaft. Es ist der immer wiederkehrende Tenor der SPD.

Doch die Menschen in Herne erleben auch einen anderen Martin Schulz. Der, von dem die Leute erzählen er sei ein guter Redner, er sei leidenschaftlich und hungrig. Der Martin Schulz, der die Kameras schon mal zehn Minuten warten lässt, weil er einen alten Bekannten erblickt und in den Arm nimmt. Und der Martin Schulz, der die Herner um Gnade bittet, als er gesteht, dass er Fan des 1. FC Köln ist.

Er spricht die Kernwähler der SPD an, sagt Ulrich Alemann, Politikwissenschaftler an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf. „Seine Ausstrahlung reicht vom Stahlarbeiter zum Studienrat.“ Dass er ein Landeskind ist, könne man hören und „er lässt es auch alle wissen“, so Alemann. „Aber reicht das wirklich für einen Ruck durch die verzagte SPD-Klientel – oder bleibt es bei einem Rückchen?“

In Herne hofft man, bei der Geburtsstunde von etwas ganz Großem dabei gewesen zu sein. Nicht nur Ex-Vize-Kanzler Franz Müntefering schüttet Lob über seinen Parteikollegen wo er nur kann: „Martin Schulz wird jetzt endlich Bewegung in die Sache bringen“. Auch die Bürger zeigen sich begeistert. „Er ist der Richtige für den Job“, sagt ein junger Student.

Schulz weiß, dass die Euphorie auch Gefahren birgt. Sie darf nicht verfliegen. Noch siebeneinhalb Monate sind es bis zur Bundestagswahl, „es ist ein Langstreckenlauf“, warnt er immer wieder, „wir haben gerade einen Spurt hingelegt, aber wir müssen schauen, dass uns nicht die Puste ausgeht!“

Und dennoch: Ein paar Zweifler bleiben. „Reden kann er viel, aber bis er mir genau sagt, wie er das alles umsetzen will, glaube ich ihm nicht“, sagt eine in der Pflegerin aus Wanne-Eickel. Ihr Mann steht neben ihr und nickt bestärkend. Sie zweifeln nicht etwa, weil sie Martin Schulz nicht für den richtigen Kandidaten halten. Sie zweifeln, weil sie den Glauben in die Politik verloren haben. Und genau diese Wähler sind es, die Schulz überzeugen muss, wenn er am Ende genug Luft für das letzte Stück haben will.

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