




Kurz bevor die Hoffnung die Bühne betritt, wird im Willy-Brandt-Haus ein Video eingespielt. Die schnellen Schnitte und die treibende Musik gleichen einem Werbeclip, und Werbung soll es ja auch sein: für Martin Schulz, natürlich, aber auch für seine Partei.
Doch die Botschaften, die der Einminüter vermittelt, kommen einem höchst vertraut vor. Gerechtigkeit. Aufbruch. Zusammenhalt. Optimismus. Nichts, was die Partei nicht auch schon 2013 oder gar 2009 und 2005 hätte zeigen können. Und gezeigt hat. Ist das überzeugend? Vielleicht. Überraschend? Nein.
Der Begeisterung in der SPD-Zentrale tut das keinen Abbruch. Schulz, der Kanzlerkandidat und künftige Parteichef, wird empfangen und beklatscht wie ein Heilsbringer. Es ist, als habe der Rückzug Sigmar Gabriels eine sozialdemokratische Blockade gelöst und eine Autosuggestion in Gang gesetzt. Es geht wieder was. Es muss. Es soll. Die SPD glaubt wieder ans Vorwärts.
Die Wechsel an der SPD-Spitze
Der Saarländer entreißt im November 1995 dem glücklosen Rudolf Scharping den Vorsitz in einer Kampfabstimmung. Nach dem SPD-Sieg bei der Bundestagswahl 1998 verschärfen sich die Gegensätze zu Bundeskanzler Gerhard Schröder, dem Lafontaine als Kanzlerkandidat weichen musste. Außerdem ist von Differenzen in der Steuerpolitik die Rede. 2005 tritt Lafontaine aus der SPD aus. Heute ist er bei der Konkurrenz-Partei Die Linke.
Der SPD-Kanzler übernimmt im März 1999 von Lafontaine den Parteivorsitz. Schröders einschneidende Sozial- und Wirtschaftsreformen („Agenda 2010“) stoßen insbesondere beim linken Flügel und den Gewerkschaften auf Kritik. Unter ihm verliert die Partei mehr als 140.000 Mitglieder, mehrfach gibt es zweistellige Verluste bei Landtagswahlen.
Auf Schröder folgt im März 2004 der damalige Fraktionsvorsitzende Müntefering. Doch auch er kann weder Mitgliederschwund noch Wahlniederlagen stoppen. Als die Parteilinken seinen Vorschlag für den Posten des Generalsekretärs verwerfen, gibt er auf.
Der Ministerpräsident von Brandenburg setzt ab November 2005 auf klassische SPD-Positionen. Bei seinem Start gilt der Müntefering-Nachfolger als Hoffnungsträger. Bevor Platzeck Wegmarken setzen kann, tritt er völlig überraschend nach 146 Tagen aus gesundheitlichen Gründen zurück.
Im Mai 2006 übernimmt der rheinland-pfälzische Ministerpräsident. Beck will mit der Abkehr von Teilen der Agenda-Politik das Profil der Partei wieder schärfen. Das ungeklärte Verhältnis zur Linkspartei und sein Zögern in der Frage der Kanzlerkandidatur beschleunigen seinen Abgang. Beck begründet seinen Rückzug mit internen Intrigen. Sein Nachfolger wird im Oktober 2008 Müntefering - zum zweiten Mal.
Nach der Niederlage bei der Bundestagswahl 2009 und dem schlechtesten SPD-Ergebnis seit 1949 übernimmt der Umweltminister im November 2009 den Parteivorsitz. Zur Bundestagswahl 2013 lässt Gabriel dem ehemaligen Finanzminister Peer Steinbrück die Kanzlerkandidatur. Trotz des zweitschlechtesten Wahlergebnisses wackelt Gabriels Stuhl nicht.
Das weiß auch Schulz. Gleich zu Beginn redet er vom "Aufbruchstimmung" und "neuer Hoffnung". Und damit hat er recht. Die SPD fasst einen Mut, von dem sie selber noch nicht weiß, ob er begründet ist. Aber das ist ihr gerade herzlich egal.
"Ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden." Als er zu Beginn diesem Satz sagt, hat er den berstend vollen Innenhof schon ganz in seiner Hand. Doch womit genau eigentlich?
Die Tage seit Schulz' überraschender Inthronisation am vergangenen Dienstag waren geprägt von politischer Archäologie: Die anderen Parteien ebenso wie die Medien gruben sich durch die Archive, um noch den kleinsten Zitatsplitter zu sichten, Reden nachzulesen, Talkshows zu scannen.
Immer auf der Suche nach Antworten auf die eine Frage: Wofür steht Martin Schulz?
Für Europa, ja. Das aber heißt in seinem Fall konkret: Gegen zu scharfe Sparauflagen, für mehr Investitionen, im Zweifel auch für mehr Schulden - so es denn dem guten Zweck dient. Sprich: dem Wachstum in kriselnden Ländern.
Außerdem war sein Einsatz für das Freihandelsabkommen Ceta unübersehbar. Genauso wie seine irritierende Kumpanei mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker - der einst als luxemburgischer Regierungschef eine Steuerstandort-Optimierungspolitik exekutiert hat, die Schulz eigentlich die Zornesröte ins Zornesröte treiben müsste.
In anderen innenpolitischen Fragen wiederum gilt Schulz als Wiedergänger Gabriels. Was hieße: ein Linker ist er sicher nicht.
Kurzum: Der genaue Blick auf den deutschen Kanzlerkandidaten ist noch von lauter Fragezeichen verstellt.
Bei seiner Rede in der SPD-Zentrale geht Schulz diese Fragezeichen offen an. Als ehemaliger Bürgermeister von Würselen sehe er den Vorwurf, innenpolitisch unbeleckt zu sein, ganz gelassen, sagt er. "Jedes Problem landet am Ende im Rathaus." Und sein mehr als einstündiger Auftritt soll dann auch erkennbar eines: keine Lücke offen lassen.
Steuergerechtigkeit, Flüchtlinge, Trump, Mieten und Kitas, Krankenkassen und Europapolitik. Nichts lässt Schulz aus. Bis in die Niederungen der Umweltpolitik steigt der Merkel-Herausforderer hinab. Soll niemand sagen, er habe offene Flanken.
Sigmar Gabriel verzichtet auf SPD-Kanzlerkandidatur
Für seine eigenen Verhältnisse ist es eine eher dosierte, zurückgenommene Rede. Schulz greift hier und da an, aber er vergreift sich nicht im Ton. Die CSU attackiert er. Er zeigt harte Kante gegen die AfD. Und er zielt mit der Kritik am lavieren, auf Sicht fahren, dem Prinzip des "Weiter so" direkt auf Angela Merkel.
"Ich bin der Sohn einfacher Leute", sagt er gegen Ende. Er habe mehr Zeit beim Fußball spielen als in der Schule verbracht. Seinen vor Jahrzehnten überwundenen Alkoholismus nennt er eine "Orientierungslosigkeit", vor der ihn Familie und Freunde gerettet hätten. Hier signalisiert jemand, dass er mit jeder Faser ehrlicher Sozialdemokrat sein will.
Mehr - also Neues, Aufregendes, Bahnbrechendes - brauchen die Genossen an diesem Tag gar nicht für ihr Glück.