Nicht nur unter Journalistenkollegen ist man sich weitgehend einig, dass „Lügenpresse“ kein Begriff ist, der den Zustand der gegenwärtigen politischen Öffentlichkeit einigermaßen treffend bezeichnet. Und das mit gutem Grund.
Dieser Grund ist allerdings nicht identisch mit der Feststellung, dass „Lügenpresse“ vor allem bei Pegida-Demonstrationen skandiert wird und dadurch schon ausreichend diskreditiert ist. Es hilft auch nicht weiter, seine historische Halbbildung auszupacken und zu erklären, dass schließlich Göbbels und andere Nazi-Propagandisten über die „Lügenpresse“ schimpften.
Diese scheinbare Entlarvung ist weder ein ausreichendes noch ein überzeugendes Argument. Göbbels und seine Schergen waren nicht die Erfinder des Begriffs, der schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftaucht und immer wieder auch auf der linken Seite des politischen Spektrums verwendet wurde. Die Studenten von 1968 riefen auch oft „Lügenpresse“, bevor sie Lieferwagen anzündeten, die die Bild-Zeitung transportierten. Erstaunlich ist außerdem, dass ein weiterer Lieblingsbegriff der NS-Propaganda, nämlich „Hetze“, nicht nur in der Presse, sondern auch von regierenden Politikern, allen voran Justizminister Heiko Maas, offenbar völlig bedenkenlos verwendet wird, um jene „Lügenpresse“-Rufe zu verurteilen.
Der Begriff Lügenpresse ist aus einem ganz einfachen Grund unpassend. Was heißt „Lüge“? Eine Lüge ist, entgegen offenbar weitverbreiteter Ansicht, nicht die Verbreitung von Meinungen, die der eigenen widersprechen. Auch wenn sie in den eigenen Augen noch so verheerend, unmoralisch, verwerflich, dumm, naiv sind. Auch wenn seine Argumente absurd, unpassend, fehlerhaft sind, lügt der Andersdenkende dadurch nicht unbedingt.
Eine Lüge ist, nach der weitgehend akzeptierten Definition von Arnold Isenberg, „eine Aussage von jemandem, der sie selbst nicht glaubt, mit der Absicht, dass ein anderer verführt werden soll, sie zu glauben.“ Nicht nur die bewusste Täuschungsabsicht gehört also zur Lüge, sondern vor allem das Wissen, dass man die Unwahrheit sagt.
Natürlich lügen Journalisten – wie alle Menschen lügen. Manchmal. Der eine mehr, der andere weniger. Natürlich sollten Journalisten, deren Beruf mit dem Anspruch verbunden ist, die Wahrheit aufzudecken und sie zu verbreiten, an sich selbst besonders hohe Ansprüche stellen, nicht zu lügen. Aber zu unterstellen, dass Journalisten die Botschaft der „Willkommenskultur“ – darum geht es ja meist – verbreiten, während sie eigentlich wüssten, dass sie falsch sei, ist doch reichlich absurd.
Auch pöbelnde Schreihälse haben legitime Interessen
Zugegeben, es ist nicht alles in Ordnung mit dem Journalismus und der politischen Diskurskultur in Deutschland. Denn diejenigen, die der Presse das Lügen vorwerfen, werfen ihr ja nicht wirklich das Lügen im Wortsinne vor. Das unpassende Wort offenbart die Wut und den Frust nicht besonders (wort)mächtiger Menschen angesichts der in der deutschen Gesellschaft und Politik vorherrschenden und handlungsleitenden Normen. Man weiß zwischen den Kategorien Wahrheit und Meinung nicht zu unterscheiden.
Die im vergangenen Jahr steil ansteigende Verwendungshäufigkeit des Begriffs „Lügenpresse“ ist das beängstigende Indiz einer zunehmenden Verrohung der politischen Kultur. Fatal ist jedoch, dass die derart Kritisierten in den Parlamenten und Redaktionen die Diskurskultur nicht verteidigen, sondern oft nicht viel kultivierter zurückschießen: „Pack“, „Hetze“, „Dunkeldeutschland“.
Auch solche Begriffe reduzieren den politischen Diskurs auf das Niveau von Schreihälsen, die nicht einmal den Versuch machen, zu verstehen, was denn nun das Anliegen des Andersdenkenden ist. Wer dem politischen Gegner pauschal vorwirft, zu lügen oder zu hetzen, verweigert den Diskurs, macht aus dem demokratischen Wettstreit um Interessen und Meinungen einen Vernichtungskampf. Die einen wollen „Volksverräter“ verjagen, die anderen stellen Facebook-Nutzer öffentlich an den Pranger oder rufen gleich nach dem Verfassungsschutz.
In einer „bunter“ werdenden Gesellschaft muss man sich damit abfinden, dass auch ressentimentgeladene, pöbelnde Schreihälse legitime Interessen artikulieren. Diese Interessen muss man verstehen. Nur die Bereitschaft zum Verständnis des anderen kann verhindern, dass er vom politischen Gegner zum Feind wird.
Was macht also die Lügenpresse-Rufer so wütend auf die Presse?
Zum Verständnis hilft die so genannte Indexing-Hypothese, die der amerikanische Medienwissenschaftler Lance Bennet entwarf: Sie besagt, dass das Meinungsspektrum des Journalismus „indexiert“ sei, sich also an den im politischen Betrieb vertretenen Positionen orientiert, aber kaum davon unabhängige Grundsatzkritik hervorbringt. Bennet und andere Medienwissenschaftler haben diese Hypothese bislang vor allem anhand außenpolitischer Themen in den USA und Deutschland untersucht und weitgehend bestätigt.
Dieses Indexing funktioniert – das ist entscheidend – nicht so verschwörungstheoretisch, wie sich das wohl mancher Pegidist vorstellt. Die Übernahme der Ansichten der politischen Eliten durch Journalisten ist vielmehr das größtenteils unbewusste Ergebnis eines symbiotischen Verhältnisses. Die politisch Mächtigen prägen die Diskussionen in den Medien mit ihren Positionen, weil Journalisten bei der Recherche in aller Regel „der Spur der Macht“ (Lance Bennet) folgen. Ein Journalist, der auf möglichst exklusive Informationen von Wolfgang Schäuble angewiesen ist, wird diese nicht bekommen (zumindest nicht als erster), wenn er Schäubles Politik radikal kritisiert. Und kein Hauptstadtkorrespondent möchte ausgeladen werden, wenn es darum geht, die Kanzlerin in der Regierungsmaschine zum Auslandsbesuch zu begleiten. Vertreter der Indexing-Hypothese sehen daher das, was in den Medien steht, als ein Spiegelbild der Machtverhältnisse in einer Gesellschaft.
Das politische Establishment ist nicht ausreichend repräsentativ
Dieses Indexing ist nicht unbedingt ein großes Problem für eine demokratische Gesellschaft. Zumindest solange nicht, wie das politische Establishment selbst das Spektrum der politischen Interessen und Meinungen in einem Land weitgehend abdeckt und das Parlament das Volk im Wesentlichen repräsentiert. Dann repräsentiert auch ein „indexierter“ Meinungsjournalismus die öffentliche Meinung.
In den beherrschenden Frage der Gegenwart, der Flüchtlingspolitik, bildet der Bundestag aber nicht die Ansichten und Interessen der Deutschen ab, wie Umfragen belegen. Es gibt de facto so gut wie keine Vertretung derjenigen, die Merkels Politik ablehnen. Bis auf die CSU, die allerdings von der großen Mehrheit der Deutschen bekanntlich gar nicht gewählt werden kann. Grundsätzliche Kritik von etablierten Politikern an Merkel artikuliert sich angesichts der Abwesenheit einer offenen parlamentarischen Opposition nur in verdruckster Form hinter der vorgehaltenen Hand einiger weniger Abweichler – ohne die legitimierende Aura mächtiger Institutionen, die auch für Medienaufmerksamkeit sorgt. Ein auf Merkel anonym schimpfender Hinterbänkler ist keiner Redaktion einen Artikel wert.
Zu viel Einigkeit schadet der politischen Kultur
Eine indexierte Presse wird also erst dann zum Problem, wenn sich das Establishment in zentralen Fragen allzu einig ist und die indexierte Presse diese Einigkeit weitgehend übernimmt – während sich die Bevölkerung ganz und gar nicht einig ist. Das ist derzeit der Fall. Und das ist vermutlich der Grund für den Vertrauensverlust vieler Leser und Zuschauer, der sich bei manchen zur Wut auf die angebliche „Lügenpresse“ steigert. Deutschland erlebte ähnliches zuletzt 1968, als die linken Studenten sich im Bundestag nicht repräsentiert fühlten und keine Zeitung fanden, die ihre Positionen vertrat. Sie setzten daher auf „außerparlamentarische Opposition“. Wie gesagt, auch damals erschallten Parolen gegen die „Lügenpresse“. Einige Jahre später erschien dann die „Tageszeitung“.
Das Vokabular von Pegida
Bereits zu Beginn des 20. Jahrhundert geläufig, erlebte das Wort um 1940 eine Renaissance. Dahinter standen laut GfdS immer völkische und nationalistische Anliegen, die die staatlich gelenkte „Lügenpresse“ angeblich zu verschleiern versuchte. Aus Sicht der Protestierenden herrscht auch heute keine wirkliche Meinungsvielfalt oder Meinungsfreiheit. Aus ihrer Sicht bestimmen vielmehr Regierung oder System darüber, was veröffentlicht werden darf.
Der Volksverrat findet sich als Straftatbestand erstmals im Nationalsozialismus. Der heutige Gebrauch von „Volksverräter“ zielt nach Angaben der Gesellschaft darauf ab, die gewählten Volksvertreter eben als Verräter an „ihrem“ (sprich: dem deutschen) Volk zu bezeichnen. Vor der Zeit des Nationalsozialismus habe es den Straftatbestand des Hoch- und Landesverrats gegeben. Erst mit dem Wort Volksverrat habe die Straftat aber einen klaren Bezug zur Nationalität erhalten, da mit den bis dahin üblichen Bezeichnungen nicht auf eine völkische oder ethnische Zugehörigkeit Bezug genommen wurde.
Laut Wörterbuch Grimm ist die Bedeutung „westlich gelegenes Land“, zunächst also rein geografisch und ohne Bezug zu einer bestimmten Nation, Kultur oder Religion. Ideologisch besetzt ist das Wort jedoch nach Angaben der Sprachforscher durch das Hauptwerk des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler „Der Untergang des Abendlandes“, das klare antidemokratische Züge aufweist. Spengler sah die abendländische Kultur im Untergang begriffen und hielt die freiheitliche Demokratie für ein (unausweichliches) Stadium zum Niedergang.
Im Duden bereits 1929 verzeichnet, 1993 Unwort des Jahres. Auch hier gibt es laut GfdS einen klaren Bezug zur Sprache des Nationalsozialismus. So sprach Joseph Goebbels 1933 von „Überfremdung des deutschen Geisteslebens durch das Judentum“. Heutzutage seien eher andere Gruppen gemeint, das Wort habe sich hartnäckig gehalten.
Ruf bei den Montagsdemonstrationen in der DDR, später abgewandelt zu „Wir sind ein Volk“ - im Hinblick auf die Wiedervereinigung nach dem Mauerfall. Heute von Pegida aufgenommen - genau wie die Tradition der Montagsdemos - zur Abgrenzung gegenüber Zuwanderern, vor allem solchen muslimischen Glaubens.
Das beschriebene Indexing und die seit den 1960er Jahren aus der Sozialpsychologie bekannten Fallen des Gruppendenkens verlieren ihre Wirkung, so ist zu hoffen, in dem Maße, wie diese Mechanismen den potenziell Betroffenen bewusst werden. Abhängigkeiten sind für Journalisten nie ganz abzuschaffen, weil die Objekte der Berichterstattung mit den Lieferanten der Informationen weitgehend identisch sind. Aber allein schon sich dies bewusst zu machen, sollte dazu führen, ein bisschen freier im Urteil zu werden. Erkennbare Distanz zur Macht dürfte auf die Lügenpresse-Rufer sehr viel mehr Eindruck machen als der therapeutische Hochmut gegenüber weiten Teilen der unzufriedenen Bevölkerung, den manche Journalisten mit Spitzenpolitikern teilen.