Mehrwertsteuer Bund beendet Steuerchaos fürs Pizza-Taxi

Das Finanzministerium will künftig für alle Außer-Haus-Lieferungen von Speisen nur sieben Prozent Mehrwertsteuer verlangen. Ein kleiner Sieg der Vernunft im alltäglichen Steuerwahnsinn.

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Wolfgang Schäuble LAIF NICHT VERWENDEN Quelle: LAIF/Christian O. Bruch

Tausende Fleischer, Bäcker, Großküchen und Pizzadienste können aufatmen. Im Streit um die Besteuerung von Außer-Haus-Lieferungen hat sich Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) dafür entschieden, grundsätzlich den ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent zu erheben. Nach der Devise „Essen ist Essen“ soll es bei Außer-Haus-Lieferungen keine steuerliche Unterscheidung mehr geben. Anlass zur Klarstellung hatten die neuere Rechtsprechung und -auslegung gegeben: Wer sich einfache Standardspeisen wie Würstchen oder Pommes frites ins Haus kommen lässt, muss danach nur sieben Prozent Mehrwertsteuer zahlen, bei anderen Speisen werden hingegen volle 19 Prozent fällig. Besonders absurd: Bringt der Bote Pizza Margherita, müssen sieben Prozent abgeführt werden, bei einer Pizza Quattro Stagioni dagegen 19 Prozent, weil sie wegen des üppigeren Belags nicht mehr als einfache Speise gilt.

Künftig sollen auch Lieferungen zu festen Zeiten nicht als Dienstleistung gelten, sodass hier ebenfalls nicht der volle Steuersatz greift. Das betrifft insbesondere das „Sozial-Catering“: die Belieferung von Altenheimen, Krankenhäusern und Kindergärten durch externe Großküchen. Für das klassische Catering inklusive Geschirr oder Tischen bleibt es beim vollen Satz. Mit der Reform reagiert das Ministerium auf viele Zweifelsfälle in der Praxis. Immer mehr Finanzämter bemängelten, dass Fleischer oder Großküchen bei Außer-Haus-Lieferungen nur sieben Prozent abführten, und forderten teilweise Steuernachzahlungen in Millionenhöhe. Zuletzt schlug sich der Bundesfinanzhof auf die Seite der Finanzämter – mit Verweis auf eine EU-Richtlinie zur Mehrwertsteuer und auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Dagegen protestierten Ernährungshandwerk, Gaststättengewerbe und Pizzadienste.

Illustration Welche Mehrwertsteuer für Essen und Trinken fällig ist

Nun bereitet Schäubles Ministerium eine sogenannte Verwaltungsanordnung vor. Vertreter von Bund und Ländern treffen sich vom 14. bis 16. Mai in Bremen, um eine einheitliche Linie auszuhandeln. Im Vorfeld wirbt Finanzstaatssekretär Hartmut Koschyk (CSU) bereits „für eine schonende Regelung, auch für die Altfälle“. Noch offene Verfahren zwischen Finanzverwaltung und Außer-Haus-Lieferanten sollen demnach zugunsten der Unternehmen entschieden werden. Der Steuerexperte des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Matthias Lefarth, empfiehlt betroffenen Unternehmen, mit einem Hinweis auf ein baldiges Schreiben des Bundesfinanzministeriums ein Ruhen ihres laufenden Verfahrens zu beantragen.

Für tausende Metzger, Bäcker und Großküchen, die nach teilweise jahrelangem Streit die Steuern bereits nachgezahlt haben, kommt das klärende Schreiben des Bundesfinanzministeriums jedoch zu spät. So auch für den Lemgoer Fleischer Richard Nier, der für Außer-Haus-Lieferungen von Suppen, Schnitzeln und sonstigen Speisen sieben Prozent Mehrwertsteuer veranschlagt hatte. Zu Unrecht, meinte sein Finanzamt – und damit begann für den Handwerker aus Lemgo eine fast zehnjährige Odyssee.

Der Betriebsprüfer stieß sich daran, dass der Fleischer zu seinen Produkten gelegentlich auch Teller und Tische mitlieferte, worauf ja der volle Mehrwertsteuersatz zu entrichten sei. „Wie gehe ich mit 100 Liter Gulaschsuppe und ein paar Tellern um?“, fragte daraufhin Nier und schlug vor, die Rechnungen aufzuspalten: 7 Prozent für die Suppe und 16 Prozent für die Teller, denn als der Streit entbrannte – im Jahr 2003 mit Blick auf den Zeitraum 1998 bis 2002 –, war das noch der volle Mehrwertsteuersatz. Der Prüfer zuckte mit den Schultern, so erinnert sich der Metzger noch immer empört, und ein paar Tage später kam der Bescheid vom Finanzamt: 16 Prozent auf alle Lieferungen, bei denen Teller im Spiel waren.

Service erhöht die Mehrwertsteuer

Ein Urteil zwingt Tausende Fleischer, Bäcker und Pizzadienste zu Nachzahlungen – ein Wahnsinn des Systems.
von Christian Ramthun

Nier zog vors Finanzgericht Münster und stellte erneut seine 100-Liter-Suppe-Frage. Die Antwort des Richters dröhnt dem Metzger seither im Ohr: „Herr Nier, ich weiß, es ist kompliziert, aber das ist doch nicht mein Problem.“

Die Klage wurde abgewiesen, es ging zum Bundesfinanzhof (BFH) nach München und von dort zunächst weiter zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) nach Luxemburg, um klären zu lassen, ob

a) auch zubereitete Speisen unter den Begriff „Nahrungsmittel“ in Anhang H Kategorie 1 der Richtlinie 77/388/EWG fallen und so umsatzsteuerlich zu begünstigen sind – und falls ja,

b) wie die zubereiteten Speisen bei einer Außer-Haus-Lieferung umsatzsteuerlich zu gewichten sind.

Der EuGH entschied im März 2011 die erste Frage mit „Ja“ und die zweite mit „Kommt drauf an“. Nier freute sich – nur leider zu früh. Denn der elfte Senat beim BFH, der sich mit dem Fall erneut zu befassen hatte, fällte folgendes Urteil: Der Fleischer habe mehr als nur einfache Speisen (Würstchen, Pommes frites) geliefert und dazu auch Dienstleistungen (Beratung, Teller, pünktliche Lieferung) erbracht. Schon „ein zusätzliches Dienstleistungselement“ reiche aber aus, so der BFH, um den vollen Mehrwertsteuersatz anzuwenden – eine brisante Interpretation des geltenden Steuerrechts.

Das Urteil, das Ende Januar 2012 bekannt gegeben wurde, betraf alle Metzger, Bäcker und Konditoren mit Außer-Haus-Aktivitäten und darüber hinaus jeden Pizza-Blitz, Essen-auf-Rädern-Dienst und Lieferservice des Lebensmitteleinzelhandels – fast alle kalkulieren mit sieben Prozent Mehrwertsteuer.

Der Mehrwertsteuer-Irrsinn der EU
Eine Ein-Euro-Münze liegt über Europa auf einem beleuchteten Globus Quelle: dpa
Ein Teller Pappardelle mit Bolognesesauce Quelle: AP
Skispringer laufen mit ihren Brettern vor der Vogtland-Schanze. Quelle: dpa/dpaweb
Seilbahngondel "Gletscherjet" in Kaprun Quelle: AP
Eine Frau dekoriert Schokoladenweihnachtsbäume Quelle: dpa/dpaweb
Mickey und Minnie Mouse auf dem Balkon des Dornröschenschlosses Quelle: REUTERS
Touristen am Parthenon-Tempel auf der Akropolis Quelle: dpa

Damit erreichte das Steuerchaos in Deutschland eine neue Eskalationsstufe. Die Bundesregierung, die im Steuerrecht mit dem Versprechen „einfacher, gerechter, niedriger“ angetreten ist, stand einmal mehr blank da. Tausende Unternehmen sollten Steuern nachzahlen, einige nur im vier- bis fünfstelligen Bereich, doch auf Großküchen konnten Forderungen von bis zu mehreren Millionen Euro zukommen. Auf Joey’s Pizza, Smiley’s und alle anderen Italo-Schnellgastronomen kämen Nachforderungen in ähnlicher Dimension zu.

Zu dem Fleischer-Urteil gesellte sich ein weiterer Spruch des BFH, in dem eine Hamburger Großküche, die Altenheime mit Abendessen versorgt, auch zur Berechnung des vollen Mehrwertsteuersatzes verdonnert wurde.

Steuersystem außer Kontrolle

Kassenbon mit Mehrwertsteuersätzen Quelle: dpa

Zu dem ganzen Chaos wäre es nicht gekommen, hätten die Politiker die überfällige Reform des Mehrwertsteuersystems angepackt, so wie es sich CDU, CSU und FDP zu Beginn der Legislaturperiode vorgenommen haben. Sogar die im Koalitionsvertrag vereinbarte Reformkommission hat bislang nicht getagt. Zu groß ist offenbar Schäubles Angst vor „Oma Erna“, einer fiktiven älteren Dame mit Hund und der Gewohnheit, einmal in der Woche frische Blumen auf das Grab ihres verstorbenen Gemahls zu stellen. „Oma Erna“ geistert durch das Finanzministerium als Synonym für drohende öffentliche Widerstände, falls etwa der für Hundefutter und Schnittblumen geltende ermäßigte Mehrwertsteuersatz angehoben würde.

So aber müssen sich Steuerbürger, Finanzbehörden und Politiker weiter mit satireverdächtigen Einzelfällen beschäftigen. Anfang des Jahres befasste sich beispielsweise der Finanzausschuss des Deutschen Bundestages mit dem Mehrwertsteuersatz für Pferde. Da die meisten von ihnen hierzulande der Freizeitgestaltung und nicht dem Verzehr dienen, verstößt der bisher ermäßigte Steuersatz nach einem EuGH-Urteil gegen das Gemeinschaftsrecht.

Auch der Bundesrechnungshof kommt inzwischen zu dem Ergebnis, dass das ganze System außer Kontrolle geraten ist. „Ein kompliziertes und sich rasch wandelndes Steuerrecht“, schrieb der Rechnungshof in einem Bericht für den Finanzausschuss des Bundestages, „hat auch in den letzten fünf Jahren die Arbeit der Veranlagungsstellen und den Vollzug der Steuergesetze erheblich erschwert.“ Vereinfachungen habe es nur „punktuell“ gegeben.

Patsch – eine Watsche gegen die Regierung.

Bei einer Überprüfung von amtlichen Steuerbescheiden stellte der Bundesrechnungshof fest, dass es bei der Berücksichtigung der häufigsten Werbungskostenarten eine Fehlerquote von 36 und 68 Prozent gab. Im Ergebnis werde der gesetzmäßige Vollzug der Steuergesetze „nicht gewährleistet“.

Noch eine Klatsche.

Auch Deutschlands oberster Steuerrichter, Rudolf Mellinghoff, spricht von einem „desolaten Zustand“. Das Steuerrecht ersticke an sich selbst, sagte der BFH-Präsident im Gespräch mit der WirtschaftsWoche. Mellinghoff appellierte an die Politik, zumindest mehr Gebrauch von Pauschalierungen zu machen.

Immerhin tut dies Bundesfinanzminister Schäuble jetzt im Fall der Außer-Haus-Lieferungen von Essen. Es könnte ein Anfang für mehr Vernunft und Praxisnähe im Steuerrecht sein.

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