
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat größere Interviews gegeben, kürzlich in der "Zeit" und gestern auch in der ARD. Sie zeigt darin ihre beiden wichtigsten politischen Eigenschaften, die sie zum Erhalt der Macht einsetzt: Merkel, die Nihilistin, und Merkel, die Meisterin der Einschläferung.
Sowohl in der Zeit als auch in der ARD schafft sie es, wie Stefan Niggemeier erkannt hat, darüber zu reden, „worüber man reden müsste, ohne darüber zu reden.“ Fragen auszuweichen, ist eine bewährte Praxis der politischen Sprache. Aber Merkel radikalisiert sie zum absoluten Nihilismus.
Sie sagt in der „Zeit“, „Freiheit und Sicherheit müssen immer in der Balance gehalten werden. Deshalb muss alles dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehorchen.“ Darüber müssten wir „ständig“ eine Diskussion führen. Auch "international", wie sie im ARD-Interview sagt. Man werde da auf "sehr unterschiedliche Philosophien" stoßen. Doch was denkt eigentlich die Kanzlerin? Was trägt sie selbst zu dieser Diskussion bei? Nichts, nihil, niente. Auf die Frage, was denn „verhältnismäßig“ sei, antwortet sie: „Ein Vorgehen, das den Schutz der Privatsphäre mit dem Schutz vor Terror im Gleichgewicht hält und beiden Zielen bestmöglich dient.“ Verhältnismäßig ist also, was verhältnismäßig ist. Vor solcher Logik kapitulieren auch die Zeit-Journalisten.
Man müsse dies oder jenes prüfen, sagt sie mehrfach in der „Zeit“ und der ARD. Wir werden also von einer Bundeskanzlerin regiert, die zum Beispiel die politische Frage nach der Gewährung von Asyl für einen Menschen, den Millionen für einen Freiheitshelden und andere Millionen für einen Verräter halten, von irgendwelchen Fachleuten prüfen lässt, ohne eine Meinung dazu zu haben. Sie erlaube sich kein Urteil über einen Mann, „über den ich lediglich das eine oder andere lese“. Ist ihr der Mann, der gerade die Welt in Atem hält, wirklich egal? Sie tut zumindest so.
Im Interview mit der ARD spielt sie die Unwissende. Als Ulrich Deppendorf vermutet, dass Merkel keine Hinweise habe, „dass die Amerikaner sich an deutsches Recht gehalten haben?“ antwortet sie: „Nein, ich habe keine Hinweise, dass sie sich nicht an deutsches Recht gehalten haben.“ Dazu lächelt sie schelmisch. Keine Hinweise? Liest sie nicht Zeitung, schaut sie nicht Fernsehen? Was sind die Berichte von Edward Snowden anderes als Hinweise auf unrechtmäßiges Verhalten der amerikanischen Dienste? US-Regierungs- und Geheimdienstkreise betonen laut „Bild“-Zeitung, dass der Bundesnachrichtendienst (BND) seit Jahren von der nahezu totalen Datenerfassung wisse. Und dass sich die NSA und andere westalliierte Dienste nicht an deutsches Recht halten, könnte sie einfach in der einschlägigen Literatur nachlesen.
Die Kanzlerin hält - man kann es nicht anders sagen - ihr Volk zum Narren. Und die ARD-Journalisten spielen staatstragend das Spielchen mit.
Merkel stellt die Fragen in den Raum, die sich jeder unbedarfte Beobachter stellt, und sagt, dass man sie sich stellen muss. Sie tut, als ob sie alles nicht so genau weiß. Damit ist sie vielen Menschen vermutlich sympathisch. Merkel wird wohl für „ehrlich“ gehalten, weil sie sich angesichts solch einer komplexen Angelegenheit so unwissend stellt, wie die meisten Bürger tatsächlich sind – obwohl Merkel es gerade nicht ist. Denn natürlich weiß sie auf viele der Sachfragen, die sie und ihre immer wieder vorgeschobenen „Experten“ zu stellen vorgeben, längst die Antworten.
Und auf die anderen Fragen, die sie für so diskussionswürdig zu halten vorgibt, sollte sie als Bundeskanzlerin und Vorsitzende der Volkspartei CDU richtungsweisende Vorschläge machen. Schließlich gibt sie laut Grundgesetz die „Richtlinien“ der Politik vor. Regieren bedeutet Antworten zu geben auf die Fragen der Zeit. Zumindest war das mal so.
Wäre Merkel nicht die Kanzlerin, und wäre es nicht für alle Politik-Journalisten ein Höhepunkt des Berufslebens, die Kanzlerin interviewen zu dürfen, und wären wir nicht alle allmählich vom Merkelschen Nihilismus eingeschläfert, so müsste man von Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo und ARD-Chefredakteur Ulrich Deppendorf eigentlich erwarten, dass sie solch ein Interview entnervt abbrechen. Oder ihr mit schwindender Geduld entgegenschleudern: Nun sagen Sie doch einmal irgendwas!
Stattdessen erleben wir, dass Deutschlands Alphajournalisten vor ihrer Regierungschefin zu keiner eigenständigen kritischen Haltung in der Lage sind, sondern sich diese von der Opposition oder der FDP ausleihen müssen. Der politische Tiefschlaf der Deutschen inmitten einer aufgewühlten Welt wird allmählich unheimlich.