Wie soll Großbritannien als Nicht-EU-Land künftig in den Binnenmarkt einbezogen werden?
Michael Fuchs: Großbritannien muss zunächst selbst einen Vorschlag machen, welchen Zugang zum Binnenmarkt es künftig anstrebt. Es muss aber zugleich klar sagen, was es selbst bereit ist, der EU im Gegenzug für einen solchen Zugang anzubieten. Auch wir erwarten entsprechende Vorteile. Die EU und die EU-Mitgliedstaaten werden zur gegebenen Zeit in Ruhe überlegen, inwieweit den britischen Vorstellungen entsprochen werden kann oder sollte und welche Gegenleistungen und Konzessionen im Gegenzug von unserer Seite von den Briten erwartet werden. Dann wird verhandelt. Klar ist, wer nicht mehr im Club ist, kann nicht mehr alle Privilegien der Clubmitglieder für sich erhalten.
Wie kann vermieden werden, dass die deutsche Wirtschaft, die doppelt so viel nach Großbritannien exportiert wie von dort importiert, durch den Brexit besonders getroffen wird?
Die deutsche Wirtschaft ist nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des EU-Binnenmarktes international wettbewerbsfähig. Der Zugang zum britischen Markt wird auch künftig mindestens nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO möglich sein. Ich erwarte, dass die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich insgesamt fortgesetzt werden können.
Was halten Sie davon, an Großbrtiannien ein Exempel zu statuieren, um die EU-27 zusammenzuhalten?
Die Verhandlungen über die künftigen bilateralen Wirtschaftsbeziehungen werden mit klaren Vorgaben geführt. Beide Seiten haben das Interesse, aus der Situation, die wir uns nicht gewünscht haben, das Bestmögliche zu machen. Die EU wird dem Vereinigten Königreich nicht mehr dieselben Privilegien einräumen wie bisher. „In“ is „in“ and „out“ is „out“. Die EU bildet einen der größten Wirtschaftsräume der Welt und sie ist eine einzigartige Solidar- und Wertegemeinschaft mit einer hohen Anziehungskraft. Und dies wird auch so bleiben!
Wäre es eine Option, die Arbeitsfreizügigkeit in der EU einzugrenzen?
Die Arbeitnehmerfreizügigkeit gehört zu den vier Grundfreiheiten der EU. Sie ist grundsätzlich nicht verhandelbar. Einschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit waren und sind allenfalls für begrenzte Übergangszeiten zur Sicherung anderer hoher Rechtsgüter möglich.
Wo die großen Brexit-Baustellen sind
Seit der konservative Premier David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, tobt ein Kampf um seine Nachfolge - nicht nur hinter den Kulissen. Als aussichtsreichste Kandidaten gelten Brexit-Wortführer Boris Johnson und Innenministerin Theresa May. Johnson werden die besten Chancen eingeräumt, auch wenn er erbitterte Feinde in der Tory-Fraktion hat. May könnte als Kompromisskandidatin gelten, sie war zwar im Lager der EU-Befürworter, hielt sich aber mit öffentlichen Äußerungen zurück.
Labour-Chef Jeremy Corbyn laufen nach dem Rauswurf seines schärfsten Kritikers Hilary Benn die Mitglieder seines Schattenkabinetts in Scharen davon. Mehr als die Hälfte seines Wahlkampfteams trat bereits zurück. Sie werfen Corbyn vor, nur halbherzig gegen einen EU-Austritt geworben zu haben, und stellen seine Führungsqualitäten in Frage. Dahinter steckt auch die Befürchtung, es könne bald zu Neuwahlen kommen. Viele Labour-Abgeordnete befürchten, mit dem Linksaußen Corbyn an der Spitze nicht genug Wähler aus der Mitte ansprechen zu können. Corbyn war im Spätsommer vergangenen Jahres per Urwahl an die Parteispitze gerückt, hat aber wenig Unterstützung in der Fraktion.
Der scheidende Premier David Cameron kündigte an, die offiziellen Austrittsverhandlungen mit der EU nicht mehr selbst einzuleiten. Der Ablösungsprozess könnte damit frühestens nach Camerons Rücktritt beginnen - womöglich erst im Oktober. Äußerungen anderer britischer Politiker lassen befürchten, dass sich die Briten gern sogar noch mehr Zeit lassen würden. Am allerliebsten würden sie schon vor offiziellen Austrittsverhandlungen an einem neuen Abkommen mit der EU basteln. Brüssel, Berlin und Paris dringen aber auf einen raschen Beginn der Austrittsverhandlungen.
Seit dem Brexit-Votum liegt die Frage nach der schottischen Unabhängigkeit wieder auf dem Tisch. Die Schotten stimmten - anders als Engländer und Waliser - mit einer Mehrheit von 62 Prozent gegen einen Brexit. Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigte in Edinburgh an, Vorbereitungen für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einzuleiten. Boris Johnson deutete jedoch bereits an, dass er als Premierminister da nicht mitspielen würde: „Wir hatten ein Schottland-Referendum 2014 und ich sehe keinen echten Appetit auf ein weiteres in der nahen Zukunft“, schrieb Johnson in einem Gastbeitrag im „Daily Telegraph“. Auch Premierminister David Cameron erteilte einem erneuten Schottland-Referendum eine Absage.
In beiden Teilen der Insel herrscht Sorge, der Brexit könnte dazu führen, dass wieder Grenzkontrollen eingeführt werden und der Friedensprozess gestört wird. Irlands Ministerpräsident Enda Kenny versicherte, seine Regierung arbeite eng mit Belfast und London zusammen, um die Grenzen offenzuhalten. Ähnlich wie in Schottland stimmte auch in Nordirland eine Mehrheit der Wähler gegen den Austritt des Königreichs aus der EU. Die nordirische nationalistische Partei Sinn Fein forderte bereits eine Abstimmung über eine Wiedervereinigung Irlands und Nordirlands.
Das britische Pfund verlor seit dem Brexit-Votum massiv an Wert gegenüber dem Dollar und fiel auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten. Auch die Börsenkurse stürzten zeitweise in den Keller. Der britische Finanzminister George Osborne versuchte am Montag, Sorgen an den Märkten zu zerstreuen. Großbritannien sei auf alles vorbereitet, sagte Osborne. Noch am Tag nach der Brexit-Entscheidung war Notenbank-Chef Mark Carney vor die Kameras getreten und hatte angekündigt, die Bank of England könne bis zu 250 Milliarden Pfund in die Hand nehmen, um weitere Verwerfungen zu verhindern. Trotz allem verlor das Pfund weiter an Wert.
Können Sie sich vorstellen, dass die USA und UK ein Freihandelsabkommen vereinbaren, während TTIP scheitert?
Nach Lage der Dinge erwarte ich, dass die USA sowohl ein TTIP-Abkommen mit der EU als auch ein bilaterales Freihandels- und Investitionsschutzabkommen mit dem Vereinigten Königreich abschließen. TTIP wird, so hoffe ich sehr, zuerst kommen, da sind wir in den Verhandlungen schon weit vorangekommen. Aber ich sehe diesbezüglich noch große Herausforderungen für alle Beteiligten auch in Deutschland und Europa. Alle marktwirtschaftlich orientierte Demokraten, die den hohen Stellenwert dieses Abkommens für die deutsche Wirtschaft erkannt haben, sollten sich massiv dafür einzusetzen, das Abkommen, das von Populisten wider besseren Wissens angegriffen wird, zu retten.
TTIP nützt der Wirtschaft, Arbeitnehmern und Verbrauchern. Es muss auch eine der vornehmsten Aufgaben von Bundeswirtschaftsminister Gabriel sein, dies der Bevölkerung und allen relevanten Akteuren noch viel klarer zu vermitteln. Denn ohne marktwirtschaftliches Engagement wird Deutschland seine starke wirtschaftliche Rolle in der Welt verlieren. Ein erfolgreicher Abschluss von TTIP noch in der Amtszeit von US-Präsident Obama wäre gerade auch für Deutschland immens wichtig.