Ibrahim Demir hat es geschafft, findet er. Und das finden auch Ralph Bollmann und Lena Schipper, Wirtschaftsredakteure bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Der aramäische Christ aus der Türkei hatte, so berichten sie im September 2015, „nur fünf Jahre lang die Grundschule besucht, als er Mitte der neunziger Jahre mit 16 Jahren nach Deutschland flüchtete, weil sein Vater in der Heimat verfolgt wurde“.
Doch er machte eine Ausbildung und rackerte sich nach oben: „Zweieinhalb Jahre lang nur arbeiten, Sport machen, lernen, schlafen, und dann das Gleiche wieder von vorne.“ Aber es hat sich gelohnt: „Heute betreibt der Schuhmachermeister ein Atelier für Maßschuhe in Wiesbaden.“
Eine Volkswirtschaft braucht Einwanderer wie Demir, wenn sie wachsen soll, obwohl in ihr immer weniger Kinder geboren werden und diese wenigen offenbar immer weniger Lust verspüren, Unternehmer zu werden. Und Geschichten wie die von Demir oder „Tung, Software-Entwickler aus Vietnam oder Sundeep, Elektroingenieur aus Indien“ finden sich in jüngerer Zeit immer häufiger in den Wirtschaftsressorts der Presse.
Aus diesen Ländern kommen Asylbewerber in Deutschland
Fünf Prozent der Flüchtlinge, die in Deutschland Asyl suchen, kommen aus Afghanistan.
Genauso viele (fünf Prozent) suchen aus dem Irak Zuflucht in Deutschland.
Aus Serbien im Balkan kommen sechs Prozent der Asylbewerber.
Aus Albanien kommen deutlich mehr Flüchtlinge, nämlich 15 Prozent.
Der gleiche Anteil (15 Prozent) sucht aus dem Kosovo Zuflucht in Deutschland.
Mit 22 Prozent ist der Anteil der syrischen Asylbewerber in Deutschland mit Abstand am größten.
Die Erzählung von der Einwanderung als Frischzellenkur, die einer müden Gesellschaft weiteres Wirtschaftswachstum ermöglicht, war auch der Tenor zahlreicher wirtschaftsjournalistischer Artikel und Ökonomenkommentare anlässlich der Grenzöffnung im Sommer 2015. In der ZEIT heißt es: „Einwanderer haben ihre Gesellschaften immer bereichert und Innovation, Dynamik und wirtschaftlichen Erfolg gebracht. Schon deshalb, weil diejenigen, die das existenzielle Risiko einer Flucht auf sich nehmen und alles hinter sich lassen, Außergewöhnliches zu leisten bereit sind.“
Und noch einmal Bollmann und Schipper: „Denn wer sich aufmacht, der zeigt, dass er bereit ist, ein Risiko auf sich zu nehmen. Und in aller Regel gelingt es nach Anfangsschwierigkeiten dann auch, sich eine neue Existenz aufzubauen. Historisch gesehen, haben Einwanderer ihre Gesellschaften stets bereichert: Sie brachten Innovation, Dynamik, wirtschaftlichen Erfolg. Sie sind oft ambitioniert, ihre Beweglichkeit haben sie durch den Abschied vom angestammten Ort unter Beweis gestellt. Wenn man ihnen Raum gibt, ihre Pläne zu verwirklichen, und ihnen nicht mit fehlgeleiteter Politik im Weg steht – dann sind sie für das Gastland ein großer Gewinn.“
Die Häufung dieser Geschichten vom Einwanderer als Wachstumsmotor – oft verbunden mit dem Schlagwort „Fachkräftemangel“ – ist ein eher junges Phänomen. Vor der Jahrtausendwende war von Einwanderern wie Demir oder Tung in deutschen Zeitungen und Magazinen nichts zu lesen. Und doch erinnert die ökonomische Hoffnung, die heute auf Einwanderern ruht, an eine rund neunzig Jahre alte These, deren Urheber allerdings unerwähnt bleibt.
Sie stammt aus Werner Sombarts Hauptwerk „Der moderne Kapitalismus“ (1928). Für Sombart stand fest, dass „die Fremden“ besonders gut als Unternehmer geeignet sind und Einwanderer in vielen Ländern eine zentrale Rolle bei der Entwicklung des Kapitalismus spielten. Die „Wanderung entwickelt den kapitalistischen Geist“, schreibt Sombart, „durch Abbruch aller alten Lebensgewohnheiten und Lebensbeziehungen“. Der Fremde sei also zum wirtschaftlichen Erfolg „verdammt“, denn: „die Fremde ist öde. … Sie bedeutet ihm nichts. Höchstens kann er sie als Mittel zum Zweck – des Erwerbes nutzen.“ Er ist weniger abgelenkt als der Einheimische. Für ihn gibt es, so Sombart, weder Vergangenheit noch Gegenwart. „Es gibt für ihn nur eine Zukunft.“ Und: „der Fremde ist durch keine Schranke in der Entfaltung seines Unternehmergeistes gehemmt, durch keine persönlichen Rücksichten: In seiner Umgebung, mit der er in geschäftliche Beziehungen tritt, stößt er wieder nur auf Fremde.
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
Und unter Fremden sind überhaupt zuerst gewinnbringende Geschäfte gemacht worden, während man dem Genossen half.“ Für den Eingewanderten gibt es, so Sombart: „Keine Tradition! Kein altes Geschäft! Alles muss neu geschaffen werden, gleichsam aus dem Nichts: keine Bindung an einen Ort: in der Fremde ist jeder Ort gleich.“ Aus diesen Voraussetzungen erwachse „die Entschlossenheit zur vollendeten Ausbildung des ökonomisch-technischen Rationalismus.“
Verbindung von Moral und Nutzenkalkül
Dass heutige Wirtschaftsjournalisten und Ökonomen Sombart nicht erwähnen, mag an Sombarts konservativer Distanz zum Kapitalismus liegen, und an seiner Überzeugung, dass dieser nur eine historische Episode mit vorbestimmtem Ende sein werde. Oder, was wohl am wahrscheinlichsten ist, einfach an der Tatsache, dass spätestens nach Kriegsende die amerikanisch dominierte Ökonomie und mit ihr auch der Wirtschaftsjournalismus aktiv die alten Nationalökonomen der „historischen Schule“ aus dem Kanon tilgten. Die Ökonomie hat, wie Geoffrey Hodgson feststellt, im Laufe des 20. Jahrhunderts aktiv die Geschichte vergessen und dafür Rechnen gelernt („How Economics Forgot History“, 2001).
Die These von der besonderen Eignung Eingewanderter für die kapitalistische Wirtschaftsweise hat Sombarts Marginalisierung jedenfalls überstanden und ist von heutigen Ökonomen neu aufgelegt worden, zum Beispiel vom früheren Weltbank-Vizepräsidenten und Oxforder Ökonom Ian Goldin („Außergewöhnliche Menschen“, 2011). Im Wirtschaftsjournalismus ist daraus ein Narrativ geworden, eine bestimmte Art und Weise also, wie man Einwanderung erzählt und damit bestimmte Annahmen wirksam verbreitet: „Mit ihren Ideen, mit Gründergeist oder ihrer Ausbildung treiben die Zuwanderer das Wirtschaftswachstum häufig mit an“, schreibt ZEIT-Redakteur Axel Hansen 2014.
Ähnlich schreibt auch Spiegel-Online-Kolumnist Henrik Müller: „Der Zuzug mobiler, leistungsfähiger Ausländer birgt für die sesshaften Einheimischen einen erheblichen Nutzen, erst recht in einer alternden, müden Gesellschaft wie der deutschen. … Wachstum beginnt mit dem Willen, ein besseres Leben führen zu wollen. Migranten beweisen eindrucksvoll, dass sie ebendies wollen: Sie verlassen ihre Heimat, um in der Fremde ein besseres Leben zu führen. … Leistungsfähige und Leistungswillige werden gebraucht: Akademiker, Fachleute mit Biss, Unternehmertypen, die in Deutschland Firmen gründen wollen.“
Besondere Überzeugungskraft gewinnt dieses Narrativ vom Wanderer als Wachstumsbringer dadurch, dass es oft moralisch unterfüttert wird. Die beiden Stränge der Debatte um Einwanderung und „Flüchtlinge“ sind auf seltsame Weise miteinander verwoben. Moralische, humanitäre Appelle zur Hilfsbereitschaft werden im selben Atemzug mit der Aussicht auf ökonomische Gewinne, also künftiges Wirtschaftswachstum genannt. „Das ist nicht nur moralisch geboten. Es nützt auch uns allen“, begrüßen Bollmann und Schipper die Öffnung der deutschen Grenze für Flüchtlinge der Balkan-Route. Die Flüchtlinge erscheinen in vielen Artikeln als die fleischgewordene Win-Win-Situation von Kommerz und Moral. Einwanderung scheint den Traum des modernen Menschen wahr werden zu lassen, und seine beiden widersprüchlichen Begierden zu versöhnen: Gutes tun und dabei noch reicher werden.
Die Wirtschaftsjournalisten der 1960er Jahre waren noch nüchterner. Die ersten Einwanderer der Nachkriegsgeschichte, die damals so genannten Gastarbeiter wurden in der Wirtschaftspresse keineswegs begeistert begrüßt. Ihre Anwerbung wurde allenfalls als ökonomisch unumgänglich hingenommen. „Das Wandern von Arbeitern über Staatsgrenzen hinweg ist gewiss keine Ideallösung … . Es ist eine Vernunftehe, ziemlich dicht am Rand einer Notlösung“, schrieb 1966 FAZ-Herausgeber Jürgen Eick. In der zweiten Phase der Einwanderungsgeschichte seit den 1980er Jahren, gekennzeichnet durch die starke Zunahme der Asylbewerberzahlen, standen dann vor allem moralische Gründe für die Aufnahme im Vordergrund der Berichterstattung, während Wachstumshoffnungen angesichts Millionen einheimischer Arbeitsloser keine Rolle spielten. Seit wenigen Jahren, besonders aber in der so genannten „Flüchtlingskrise“ treten nun beide Argumente, humanitäres Mitleid und Nutzenkalkül, gemeinsam auf.
Politische, nicht ökonomische Fragen sind entscheidend
Eine Wirtschaft, die scheinbar entgegengesetzte Interessen entschärft, indem sie alle zu Gewinnern macht, war jahrzehntelang das Erfolgsrezept der freien Gesellschaften des Westens. Das Wachstumsparadigma, also die allgemein verbreitete Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum ein Allheilmittel für gesellschaftliche Probleme und die Politik daher verpflichtet sei, für Wachstum zu sorgen, bestimmt seit dem Zweiten Weltkrieg und der Erfindung des Bruttosozialprodukts die Wirtschafts- und Sozialpolitik fast aller Länder. In den Nachkriegsjahrzehnten gelang in der westlichen Welt durch Wirtschaftswachstum die Entschärfung sozialer Verteilungskonflikte, deren Sprengkraft sich in den stagnierenden Volkswirtschaften der Zwischenkriegszeit auf traumatisierende Weise gezeigt hatte.
Hinter der Erzählung vom einwandernden Wachstumsbringer steht die auf bestimmten historischen Erfahrungen vor allem der klassischen Einwanderungsländer gegründete Hoffnung, dass dieses Win-Win-Wunder des Wirtschaftswachstums auch die drohenden Verteilungskonflikte zwischen den reichen Ureinwohnern der frühindustrialisierten Länder und den armen Zuwanderern entschärfen werde. Während es zugleich durch die Ungleichheit, also den Wohlstandshunger der letzteren, neue Nahrung erhält.
So viel Geld bekommen Flüchtlinge in den europäischen Ländern
800 Euro zahlt das Land im Monat pro Flüchtling. Die Summe muss allerdings versteuert werden.
Quelle: EU-Kommission / Frontex, Stand: 18. September 2015
Die Spanne, die der Inselstaat für einen Asylbewerber zahlt, liegt zwischen 85 und 452 Euro pro Monat.
400 Euro pro Flüchtling / Monat.
352 Euro pro Flüchtling / Monat.
330,30 Euro pro Flüchtling / Monat.
zwischen 85 und 290 Euro pro Flüchtling / Monat.
zwischen 176 und 276 Euro pro Flüchtling / Monat.
232 Euro pro Flüchtling / Monat.
225 Euro pro Flüchtling / Monat.
187 Euro pro Flüchtling / Monat.
177 Euro pro Flüchtling / Monat.
66 Euro pro Flüchtling / Monat.
33,23 Euro pro Flüchtling / Monat.
20 Euro pro Flüchtling / Monat.
18 Euro pro Flüchtling / Monat.
12 Euro pro Flüchtling / Monat.
0 Euro pro Flüchtling / Monat.
Die Sache hat allerdings nicht nur einen Haken. Ist diese verheißungsvolle Geschichte vom Einwanderer als Wachstumstreiber zeitlos und universell zutreffend? Beweisen heutige Einwanderer allein dadurch, dass sie ihr Land verlassen, tatsächlich einen besonderen Unternehmergeist? Ist es dabei egal, welchen kulturellen oder religiösen Hintergrund die potentiellen Wachstumsbringer haben? Oder ist diese Erzählung nichts als ein letzter Strohhalm der Hoffnung in reifen Volkswirtschaften, die dem Schicksal der „säkularen Stagnation“ mit allen Mitteln zu entkommen hoffen?
Wer die hierzu verbreiteten Studien einigermaßen unvoreingenommen überblickt, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass niemand eine belastbare Antwort darauf geben kann, ob die Zuwanderung der Gegenwart und nahen Zukunft unterm Strich gesellschaftliche Kosten oder Wohlstandsgewinn erzeugt und erzeugen wird. Außerdem kann man wohl davon ausgehen, dass künftige Historiker, wenn sie die heutige Migrationsbewegung bewerten, ihre Antworten sicher nicht nur in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung suchen werden.
Denn entscheidender als die ökonomische Zuversicht, die im Narrativ des Einwanderers als Wachstumsbringer verbreitet wird, sind die Fragen, die dadurch verdeckt werden. Es sind nicht nur ökonomische, sondern politische Fragen: Sollte man überhaupt bei der Entscheidung über die künftige Einwanderungspolitik deren Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum zum entscheidenden Kriterium machen? Es gibt sicher verschiedene gute Gründe für verschiedene Regelungen der Zuwanderung. Humanitäre und andere. Aber wollen wir Einwanderung wirklich vor allem deswegen, weil unsere Wirtschaft noch weiter wachsen soll? Soll unsere Wirtschaft überhaupt weiter wachsen? Sollten möglicherweise andere Ziele – sozialer Frieden zum Beispiel – nicht mindestens ebenso sehr beachtet werden?
Vom Autor ist kürzlich im Oekom-Verlag erschienen: "Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde"