Migration Die Mär vom einwandernden Wachstumsbringer

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Politische, nicht ökonomische Fragen sind entscheidend

Eine Wirtschaft, die scheinbar entgegengesetzte Interessen entschärft, indem sie alle zu Gewinnern macht, war jahrzehntelang das Erfolgsrezept der freien Gesellschaften des Westens. Das Wachstumsparadigma, also die allgemein verbreitete Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum ein Allheilmittel für gesellschaftliche Probleme  und die Politik daher verpflichtet sei, für Wachstum zu sorgen, bestimmt seit dem Zweiten Weltkrieg und der Erfindung des Bruttosozialprodukts die Wirtschafts- und Sozialpolitik fast aller Länder.  In den Nachkriegsjahrzehnten gelang in der westlichen Welt durch Wirtschaftswachstum die Entschärfung sozialer Verteilungskonflikte, deren Sprengkraft sich in den stagnierenden Volkswirtschaften der Zwischenkriegszeit auf traumatisierende Weise gezeigt hatte.

Hinter der Erzählung vom einwandernden Wachstumsbringer steht die auf bestimmten historischen Erfahrungen vor allem der klassischen Einwanderungsländer gegründete Hoffnung, dass dieses Win-Win-Wunder des Wirtschaftswachstums auch die drohenden Verteilungskonflikte zwischen den reichen Ureinwohnern der frühindustrialisierten Länder und den armen Zuwanderern entschärfen werde. Während es zugleich durch die Ungleichheit, also den Wohlstandshunger der letzteren, neue Nahrung erhält.

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Die Sache hat allerdings nicht nur einen Haken. Ist diese verheißungsvolle Geschichte vom Einwanderer als Wachstumstreiber zeitlos und universell zutreffend? Beweisen heutige Einwanderer allein dadurch, dass sie ihr Land verlassen, tatsächlich einen besonderen Unternehmergeist? Ist es dabei egal, welchen kulturellen oder religiösen Hintergrund die potentiellen Wachstumsbringer haben?  Oder ist diese Erzählung nichts als ein letzter Strohhalm der Hoffnung in reifen Volkswirtschaften, die dem Schicksal der „säkularen Stagnation“ mit allen Mitteln zu entkommen hoffen?

Wer die hierzu verbreiteten Studien einigermaßen unvoreingenommen überblickt, wird zu dem Schluss kommen müssen, dass niemand eine belastbare Antwort darauf geben kann, ob die Zuwanderung der Gegenwart und nahen Zukunft unterm Strich gesellschaftliche Kosten oder Wohlstandsgewinn erzeugt und erzeugen wird. Außerdem kann man wohl davon ausgehen, dass künftige Historiker, wenn sie die heutige Migrationsbewegung bewerten, ihre Antworten sicher nicht nur in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung suchen werden.

Denn entscheidender als die ökonomische Zuversicht, die im Narrativ des Einwanderers als Wachstumsbringer verbreitet wird, sind die Fragen, die dadurch verdeckt werden. Es sind nicht nur ökonomische, sondern politische Fragen: Sollte man überhaupt bei der Entscheidung über die künftige Einwanderungspolitik deren Auswirkung auf das Wirtschaftswachstum zum entscheidenden Kriterium machen? Es gibt sicher verschiedene gute Gründe für verschiedene Regelungen der Zuwanderung. Humanitäre und andere. Aber wollen wir Einwanderung wirklich vor allem deswegen, weil unsere Wirtschaft noch weiter wachsen soll? Soll unsere Wirtschaft überhaupt weiter wachsen? Sollten möglicherweise andere Ziele – sozialer Frieden zum Beispiel – nicht mindestens ebenso sehr beachtet werden?

Vom Autor ist kürzlich im Oekom-Verlag erschienen: "Wachstum über Alles? Wie der Journalismus zum Sprachrohr der Ökonomen wurde"

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