Mindestlohn, Zeitarbeit, Geschlechter-Lücke Worüber die Politik 2016 streitet

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2) Flexibilisieren oder regulieren: Zeitarbeit und Werkverträge

Mitte Dezember kamen Arbeitgeber, Gewerkschafter und Vertreter des Arbeitsministeriums auf Einladung des Kanzleramtes zu einem Gespräch zusammen. Der einzige Tagesordnungspunkt: das neueste Vorhaben aus dem Hause Andrea Nahles (SPD). Genauer gesagt: der Streit darum.

Mit Geschick und Ruhe hat die Arbeitsministerin die dicksten und prestigeträchtigsten Bretter in ihrem Ressort bereits durchbohrt. Sowohl der Mindestlohn als auch die Rentenreform, so umstritten und umkämpft sie auch waren, stehen längst im Gesetzblatt, ebenso die Tarifeinheit. Doch die geplante Reform von Zeitarbeit und Werkverträgen dürfte deutlich schwieriger werden.

Das hat 2015 in Deutschland für Wirbel gesorgt
Ausbildung von Peschmerga Quelle: dpa
Wahl in Hamburg Quelle: dpa
Sebastian Edathy Quelle: dpa
Beine Quelle: dpa
Lehrerin mit Kopftuch Quelle: dpa
Maut-Schild Quelle: dpa
Schriftzug Bundesnachrichtendienst Quelle: dpa

Warum? Ungewöhnlich früh im Gesetzgebungsprozess hat sich diesmal die Bundeskanzlerin eingeschaltet. Auf dem Arbeitgebertag Ende November warf sich Angela Merkel höchstselbst als Verteidigerin der Wirtschaftsinteressen in die Bresche. Bei den Werkverträgen, sagte Merkel, gehe Nahles in ihrem Entwurf deutlich über den Koalitionsvertrag hinaus: „Hier verstehe ich mich als Wächterin des Koalitionsvertrages.“

Das wurde von den Anwesenden als Versprechen gewertet: das drehen wir wieder zurück. Kurz vor Weihnachten legt dann noch Unions-Fraktionschef Volker Kauder nach: der Entwurf sei vorerst „gestoppt“, sagt er im WirtschaftsWoche-Interview. Beides waren Ausrufezeichen in Richtung Koalitionspartner.

Bewegende Momente in der Politik 2015
Markus Nierths Quelle: dpa
Ausschwitz-Überlebende reicht früherem SS-Mann die HandIm Lüneburger Auschwitz-Prozess kommt es im April zu einer ungewöhnlichen Geste: Eine Überlebende des Konzentrationslagers reicht dem angeklagten früheren SS-Mann Oskar Gröning die Hand zur Versöhnung. „Ich habe den Nazis vergeben“, sagt Eva Kor. Die 81-Jährige hat mit ihrer Zwillingsschwester grausame medizinische Experimente in Auschwitz überlebt, die übrigen Familienmitglieder starben dort. Kor sagt vor Gericht auch: „Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei.“ Wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 300.000 Fällen wird Gröning zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt. Er bekennt sich zu seiner moralischen Mitschuld. In Auschwitz ermordete das nationalsozialistische Regime im Zweiten Weltkrieg mehr als eine Million Menschen, weit überwiegend Juden. Quelle: dpa
Hilfloser Lucke, lächelnde PetryRechte Stammtischparolen und Buh-Rufe machen den Parteitag der Alternative für Deutschland Anfang Juli in Essen zu einem etwas schrillen Spektakel. Parteigründer Bernd Lucke muss hilflos zusehen, wie seine Rivalin Frauke Petry kalt lächelnd an ihm vorbeizieht. Ihr neuer Lebensgefährte, der AfD-Landesvorsitzende Marcus Pretzell, erntet stürmischen Applaus, als er sagt, die AfD sei eben auch eine „Pegida-Partei“. Zum Schluss steht kein Stein mehr auf dem anderen. Lucke und seine Mitstreiter aus dem wirtschaftsliberalen Flügel empören sich über den „Rechtsruck“ der Partei. Sie verlassen die AfD und gründen die Partei Alfa. Quelle: dpa
Merkel und das weinende FlüchtlingsmädchenBundeskanzlerin Angela Merkel erlebt Mitte Juli in Rostock, was passiert, wenn Politik auf Individuen trifft. Bei einem „Bürgerdialog“ in einer Schule trifft sie das Flüchtlingsmädchen Reem. Merkel erklärt, dass Deutschland nicht alle Asylbewerber aufnehmen kann. Daraufhin bricht die 14-Jährige in Tränen aus. „Ach komm“, sagt Merkel und will Reem trösten. Dabei wirkt Merkel unbeholfen. „Du hast das doch prima gemacht“, sagt sie, was der Moderator mit einer spitzen Bemerkung quittiert. „Ich weiß, dass das eine belastende Situation ist - aber trotzdem möchte ich sie einmal streicheln“, herrscht die Kanzlerin den Mann an. Im Netz wird die Kanzlerin als eiskalt beschimpft. Doch „streicheln“ ist ein ungewöhnliches Wort für eine Frau, die als eiskalt gilt. Quelle: dpa
Flüchtlinge dürfen kommenFlüchtlinge werden in Ungarn schlecht versorgt, sie wollen nach Österreich oder Deutschland. Bundeskanzlerin Angela Merkel befürchtet, dass es zu einer Tragödie kommt, wenn die ungarische Polizei mit den Tausenden, zum Teil verzweifelten Menschen nicht mehr zurechtkommt. Gemeinsam mit dem österreichischen Kanzler Werner Faymann entscheidet sie am 5. September: Deutschland und Österreich nehmen in Absprache mit der ungarischen Regierung über eine Ausnahmeregelung Flüchtlinge auf. Demnach dürfen sie ohne bürokratische Hürden und Kontrollen einreisen. Bei ihrer Ankunft in Deutschland werden sie von vielen Bürgern bejubelt, Freudentränen fließen. CSU-Chef Horst Seehofer fühlt sich übergangen und warnt vor Überforderung. Quelle: dpa
Eine erfundene Zeugin im NSU-ProzessNach zweieinhalb Jahren und mehr als 230 Verhandlungstagen bemerkt Ralph Willms, Nebenklage-Anwalt im Münchner NSU-Prozess, dass er Opfer einer Täuschung geworden ist. Am 2. Oktober stellt sich heraus, dass die Nebenklägerin „Meral Keskin“ erfunden ist. Das Gericht hatte sie als vermeintliches Opfer des Bombenanschlags an der Kölner Keupstraße zum NSU-Prozess zugelassen. Dass „Keskin“ tatsächlich gar nicht existiert, fiel erst auf, als das Gericht sie mehrfach vergeblich als Zeugin geladen hatte. Hauptangeklagte im NSU-Prozess ist die mutmaßliche Rechtsterroristin Beate Zschäpe. Die Bundesanwaltschaft wirft ihr Mittäterschaft bei zehn Morden und zwei Sprengstoffanschlägen vor. Quelle: dpa
Messerattacke gegen Henriette Reker in KölnEin Attentat schockt das Land: In Köln sticht am 17. Oktober ein 44-Jähriger die parteilose OB-Kandidatin Henriette Reker an einem Wahlkampfstand nieder. Die 58-Jährige geht mit einer schweren Verletzung am Hals zu Boden, eine Notoperation rettet ihr Leben. Am Tag nach dem wohl fremdenfeindlich motivierten Anschlag wählen die Kölner die bisherige - auch für Flüchtlingspolitik zuständige - Sozialdezernentin mit 52,7 Prozent zur Oberbürgermeisterin der viertgrößten deutschen Stadt. Reker - zunächst im künstlichen Koma - nimmt die Wahl am 22. Oktober am Krankenbett an. Am 20. November tritt sie ihr Amt an und stellt klar: Sie lässt sich nicht einschüchtern. Quelle: dpa

Sondieren und einen Kompromiss verhandeln muss nun Kanzleramtschef Peter Altmaier. Das vorweihnachtliche Treffen an seinem Tisch brachte allerdings noch keinerlei Einigung. Das Nahles-Lager betont, man halte sich sowohl bei Zeitarbeit (mit grundsätzlich 18 Monaten maximaler Verleihdauer und Equal-Pay-Gebot nach neun Monaten) als auch bei den Werkverträgen (Kriterien der Rechtsprechung werden gesetzlich niedergeschrieben) klar an die Verabredungen aus dem Koalitionsvertrag.

Mitnichten – so tönt es vom Wirtschaftsflügel der Union und von Unternehmern. Vor allem die heikle Regulierung der Werkverträge wird heftig attackiert: entgegen der Nahles-Rhetorik sei das der eindeutige Versuch, Flexibilisierungs-Instrumente einzudämmen. Werkverträge – selbst die absolut gängigen und unumstrittenen – könnten in Zukunft unmöglich gemacht, lautet die scharfe Warnung.

Die erfolgsverwöhnte Arbeitsministerin muss sich dieses Mal auf hartnäckigeren Widerstand als in der Vergangenheit einrichten. Wenigstens einmal wollen die Wirtschaftspolitiker aus CDU und CSU nicht als zahnlose Tigerchen enden.

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