Mittelschicht unter Druck Deutsche Angst bremst Vermögensbildung aus

Die deutsche Angst bremst Vermögensbildung aus Quelle: Getty Images

Die Deutschen sorgen sich zu Recht um die Zukunft. Doch sie stehen einer aktienbasierten Vermögensbildung  mit ihrer historisch verwurzelten Verlustangst selbst im Weg, wie eine Studie zeigt.

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Die alternde deutsche Gesellschaft ist zutiefst von Verlustangst bestimmt. Diese „German Angst“, die eine Umfrage des Flossbach von Storch Research Institutes belegt, ist nicht nur ein historisches und sozialpsychologisches Phänomen. Sie lähmt, so der Autor der Studie Marius Kleinheyer, die Vermögensbildung und Altersvorsorge – und verstärkt so ihre eigenen Gründe. Ein Teufelskreis, dessen Ursprünge in den historischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts liegt.

76 Prozent der 1000 vom Institut repräsentativ befragten Personen geben an, dass man sich generell Sorgen machen müsse um die Zukunft. 71 Prozent sorgen sich um ihre finanzielle Absicherung im Alter. In der Altersgruppe der 40- bis 49-Jährigen ist die Sorge um die Alterssicherung sogar noch höher – fast 85 Prozent - als die vor der allgemeinen Entwicklung. „In unserer satten Gesellschaft geht die Angst vor Verlust um“ schreibt Kleinheyer. „Nach dreizehn Jahren guter Stimmung und Wohlstandsillusion herrschen optimale Bedingungen für ein Anwachsen der Angst und ein bitteres Erwachen“.

Die Phase sinkender Sorgen, die etwa 2005 mit dem Wirksamwerden der Schröderschen Agenda-Reformen begann, hatte trotz weltweiter Finanz- und Wirtschaftskrise zumindest bis 2014 angehalten. Das zeigt auch eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die auf Basis der Daten des „sozio-ökonomischen Panels“ die Entwicklung der Angst vor Arbeitsplatzverlust von 1984 bis 2014 aufzeichnete. Doch damit sei es nun, so Kleinheyer, vorbei. „Die Folgen der Finanzkrise wurden bis heute von der Bevölkerung durch die Bundesregierung ferngehalten, beziehungsweise insbesondere durch die Zentralbank abgefedert. Trotzdem hat die allgemeine Skepsis gegenüber der Politik und auch der EZB in den letzten Jahren, nicht zuletzt wegen der Flüchtlingskrise, deutlich zugenommen.“

Die Umfrage offenbart ein großes Misstrauen gegenüber der gesetzlichen Rentenversicherung (nur 40 Prozent vertrauen ihr). Dagegen vertrauen 71 Prozent eher auf das eigene Vermögen als Altersvorsorge (eigene Kinder: 41 Prozent, betriebliche Altersvorsorge: 49 Prozent).

Fatal erscheint angesichts dessen, dass 76 Prozent der Befragten nach eigenen Angaben keine Aktien, Anleihen oder Fondsanteile besitzen. Die Antworten auf die Frage, wie sie 10 000 Euro anlegen würden – unter der Auflage, dass sie zehn Jahre lang nicht an das Geld kämen -  offenbaren ein tiefes Misstrauen gegen Aktien: Nur 15 Prozent der Befragten würden das Geld in Aktien anlegen, 33 Prozent würden Gold kaufen, 29 Prozent ließen das Geld einfach auf dem Konto liegen. Mit dem Begriff „Aktie“ verbinden 42 Prozent „Risiko“ und ebenso viele „Spekulation“. Nur neun Prozent denken dabei an „Gewinn“ und ganze zwei Prozent an „Altersvorsorge“.

Ein „beunruhigendes Bild“, nennt Kleinheyer dies: „Die Deutschen machen sich Sorgen um ihre finanzielle Zukunft und haben wenig Vertrauen in die staatliche Vorsorge. Sie setzen auf ihr eigenes Vermögen, verstehen aber nicht, es so anzulegen, dass es den erhofften Schutz bringen kann.“

Viele Sorgen, wenige Aktien: Die Studie im Überblick

Verlustangst ist eine psychologische Grunddisposition des Menschen. Sie ist aus der Evolution zu erklären: Während verpasste Chancen zunächst folgenlos bleiben, können übersehene oder unterschätzte Bedrohungen im äußersten Fall tödlich enden. So ist auch zu erklären, dass schlechte Nachrichten stärker wirken als gute. Für Journalisten sind daher schlechte Nachrichten „besser“ als gute und für die Finanzwelt gilt: „Das beste Geschäft ist das schlechte, das man nie gemacht hat.“ Doch in der gegenwärtigen Situation, so Kleinheyers Fazit, behindere eine fatale, historisch verwurzelte Angst vor Verlust in der deutschen Mittelschicht die Ausbildung einer Aktienkultur, die deren Vermögensbildung und Alterssicherung zugutekäme.

Die Entstehung der „German Angst“

Gegenwärtige westlichen Gesellschaften sehen viele Soziologen als besonders angstbestimmt – in vermeintlichem Widerspruch zur Abwesenheit von Krieg, zum historisch einmaligen Wohlstandsniveau und sozialstaatlichen Sicherungssystemen. Heinz Bude etwa spricht von einer „Gesellschaft der Angst“. Man kann dafür im Wesentlichen drei Ursachen ausmachen, die alle mit der Auflösung traditioneller Bindungen und Kontinuitäten zu tun haben. Zunächst: Der Individualisierungstrend, der sich in der Schwächung von Familienbanden und zunehmender Vereinzelung äußert, geht einher mit einer Zunahme der gesellschaftlichen Komplexität und kaum noch durchschaubaren globalen Verflechtungen. Entwicklungen wie der Klimawandel oder Zuwanderung erscheinen als nicht beherrschbar.

Dazu kommt, was Kleinheyer die „kulturelle Wahrnehmung der Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen in modernen Gesellschaften“ nennt. Der Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts folgten die desillusionierenden Katastrophenerfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Verlusterfahrungen der Eltern und Großeltern prägen auch heute noch insbesondere die Deutschen.

„Wer schon einmal alles verloren und dann glücklicherweise wiedergewonnen hat, fürchtet sich vor erneutem Verlust besonders“, erklärt Kleinheyer dieses „deutsche Trauma“, das eine Erklärung der sprichwörtlichen „German Angst“ sei. Die deutsche Hyperinflation von 1923, die die Vermögen des Großteils der damaligen Mittelschicht vernichtete, war eine „Relaisstation“ zwischen beiden Weltkriegen: als Folge der Kriegsfinanzierung durch Staatsschulden und als Verursacherin von gesellschaftlichen Stimmungen, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus maßgeblich betrugen. „Nichts hat das deutsche Volk – dies muss  immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation“, schrieb Stefan Zweig schon vor dem Zweiten Weltkrieg in „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben der schnell wieder aufgestiegenen Mittelschicht solche radikalen Brüche erspart. Doch ihre generelle Aufwärtsbewegung ist seit rund 25 Jahren zum Stillstand gekommen. Sie ist, wie die Bertelsmann-Stiftung 2013 feststellte, „unter Druck“ geraten.  Nur wenige steigen aus ihr in die oberste Einkommensschicht auf, viele steigen in eine prekäre Lage ab - oder fürchten dies zumindest.

Zur Mittelschicht gehören heute Menschen, die sowohl in ihr Humankapital (also Aus- und Fortbildung) als auch in ihr begrenztes Vermögen investieren müssen, um nicht abzusteigen. Doch diese Investitionen dürfen nicht zu riskant sein, da ein Verlust unmittelbar den Status und Lebensstandard betrifft. Ein solches planbares Investieren wird aber beim eigenen Humankapital, das für Mittelschichtsangehörige wichtiger ist als Vermögen, immer schwieriger: Vor allem, so Kleinheyer, weil die Bildungsexpansion der Nachkriegsjahrzehnte längst in eine Bildungsinflation übergegangen ist. Selbst Abitur und Studium garantieren keine berufliche Position in der Mitte der Gesellschaft mehr.

Umso fataler ist, dass durch die Niedrigzinspolitik der EZB auch die Vermögenswerte der Mittelschicht sich tendenziell schlecht entwickeln. Denn die setzt traditionell auf planbare, scheinbar risikoarme geldnahe Anlagen. Die unter den Druck der ökonomischen Rahmenbedingungen geratene Mittelschicht ist unter Zugzwang gesetzt. Doch die Angst vor dem Risiko lähmt sie und verhindert die Entwicklung einer Aktienkultur.

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