Mittelschicht unter Druck Deutsche Angst bremst Vermögensbildung aus

Seite 2/2

Die Entstehung der „German Angst“

Gegenwärtige westlichen Gesellschaften sehen viele Soziologen als besonders angstbestimmt – in vermeintlichem Widerspruch zur Abwesenheit von Krieg, zum historisch einmaligen Wohlstandsniveau und sozialstaatlichen Sicherungssystemen. Heinz Bude etwa spricht von einer „Gesellschaft der Angst“. Man kann dafür im Wesentlichen drei Ursachen ausmachen, die alle mit der Auflösung traditioneller Bindungen und Kontinuitäten zu tun haben. Zunächst: Der Individualisierungstrend, der sich in der Schwächung von Familienbanden und zunehmender Vereinzelung äußert, geht einher mit einer Zunahme der gesellschaftlichen Komplexität und kaum noch durchschaubaren globalen Verflechtungen. Entwicklungen wie der Klimawandel oder Zuwanderung erscheinen als nicht beherrschbar.

Dazu kommt, was Kleinheyer die „kulturelle Wahrnehmung der Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrungen in modernen Gesellschaften“ nennt. Der Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts folgten die desillusionierenden Katastrophenerfahrungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Verlusterfahrungen der Eltern und Großeltern prägen auch heute noch insbesondere die Deutschen.

„Wer schon einmal alles verloren und dann glücklicherweise wiedergewonnen hat, fürchtet sich vor erneutem Verlust besonders“, erklärt Kleinheyer dieses „deutsche Trauma“, das eine Erklärung der sprichwörtlichen „German Angst“ sei. Die deutsche Hyperinflation von 1923, die die Vermögen des Großteils der damaligen Mittelschicht vernichtete, war eine „Relaisstation“ zwischen beiden Weltkriegen: als Folge der Kriegsfinanzierung durch Staatsschulden und als Verursacherin von gesellschaftlichen Stimmungen, die zum Aufstieg des Nationalsozialismus maßgeblich betrugen. „Nichts hat das deutsche Volk – dies muss  immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation“, schrieb Stefan Zweig schon vor dem Zweiten Weltkrieg in „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“.

Nach dem Zweiten Weltkrieg blieben der schnell wieder aufgestiegenen Mittelschicht solche radikalen Brüche erspart. Doch ihre generelle Aufwärtsbewegung ist seit rund 25 Jahren zum Stillstand gekommen. Sie ist, wie die Bertelsmann-Stiftung 2013 feststellte, „unter Druck“ geraten.  Nur wenige steigen aus ihr in die oberste Einkommensschicht auf, viele steigen in eine prekäre Lage ab - oder fürchten dies zumindest.

Zur Mittelschicht gehören heute Menschen, die sowohl in ihr Humankapital (also Aus- und Fortbildung) als auch in ihr begrenztes Vermögen investieren müssen, um nicht abzusteigen. Doch diese Investitionen dürfen nicht zu riskant sein, da ein Verlust unmittelbar den Status und Lebensstandard betrifft. Ein solches planbares Investieren wird aber beim eigenen Humankapital, das für Mittelschichtsangehörige wichtiger ist als Vermögen, immer schwieriger: Vor allem, so Kleinheyer, weil die Bildungsexpansion der Nachkriegsjahrzehnte längst in eine Bildungsinflation übergegangen ist. Selbst Abitur und Studium garantieren keine berufliche Position in der Mitte der Gesellschaft mehr.

Umso fataler ist, dass durch die Niedrigzinspolitik der EZB auch die Vermögenswerte der Mittelschicht sich tendenziell schlecht entwickeln. Denn die setzt traditionell auf planbare, scheinbar risikoarme geldnahe Anlagen. Die unter den Druck der ökonomischen Rahmenbedingungen geratene Mittelschicht ist unter Zugzwang gesetzt. Doch die Angst vor dem Risiko lähmt sie und verhindert die Entwicklung einer Aktienkultur.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%