Moralkeule Wir müssen aufhören, alles zu moralisieren

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Die Gesellschaft entscheidet über Moral

Das gilt nicht nur für Unternehmen, Länder und Institutionen. Empirische Studien belegen, dass auch im Kleinen Betrügereien gedeihen, wenn sich Vorteile bieten. Nach Aussage der Wissenschaftlerin Francesca Gino, die an der Harvard-Universität zu Verhaltensökonomie forscht, schummeln Menschen immer dann, wenn sie meinen, damit durchzukommen. Das betrifft auch jene, die sich für ehrlich halten. Besonders beliebt: Tricksereien bei der Steuer, zu hohe Spesenabrechnungen, Diebstahl. Pro Jahr entsteht US-Arbeitgebern durch klauende Mitarbeiter ein Schaden von 52 Milliarden Dollar.

Was moralisch erwünscht ist, entscheidet die Gesellschaft. Dass Menschen auch tun, was sie sollen, erreichen sie durch passende Spielregeln. Lautet das moralische Gebot Fairness, müssen sie Fouls wie beim Fußball sanktionieren. Wer bei Verstand ist, grätscht dem Gegner nicht ständig in die Beine und sammelt Platzverweise. Der entscheidende Unterschied zur Tugendethik aus den Kleingesellschaften: Die Spieler lassen sich nicht wegen antrainiertem Altruismus von Fouls abhalten, sondern aus Eigeninteresse. Fernab dieser Regeln gilt Wettbewerb – keine Mannschaft würde von ihrem Gegner erwarten, aus Mitgefühl am Tor vorbeizuschießen.

Unerwünschtes Verhalten darf nicht belohnt werden

Umso wichtiger ist es, unerwünschte Spielzüge nicht zu belohnen. Wenn die EU etwa klamme Mitgliedsländer finanziert, fehlt ihnen der Anreiz für Reformen. Das setzt einen Kreislauf aus weiteren Transfers in Gang. In modernen Gesellschaften handeln Akteure nur dann dauerhaft moralisch, wenn die Spielregeln sie zwingen. Daher ist es sinnlos, moralisch aufzurüsten, um Verhalten im großen Stil zu verändern. Verbesserungen ergeben sich nur auf Ebene der Rahmenbedingungen. Zentral ist dabei der Rechtsgrundsatz: „Ultra posse nemo obligatur“ – Sollen setzt Können voraus. Keine Ethik kann von Bürgern, Politikern oder Unternehmern verlangen, dauerhaft gegen die eigenen Interessen zu handeln.

Diese Organisationen halten die Deutschen für besonders wichtig fürs Gemeinwohl

Wer moralisiert, fühlt sich im Recht. Das wäre noch zu ertragen. Doch kann er damit auch anderen schaden. Wer den Kontrahenten verunglimpfen will, nennt ihn sexistisch, neoliberal oder, in Deutschland besonders effektiv: rechts. Forscher bezeichnen solche Angriffe als Ad-Hominem-Argumente, weil sie sich gegen die Person oder ihre Eigenschaften wenden. Sie folgen dem Muster: Person A (Horst Seehofer) hat den Makel B (flirtet mit Wählern vom rechten Rand), folglich sind dessen Forderungen (Zuwanderung von Flüchtlingen begrenzen) falsch.

Politische Gegner werden desavouiert

Ein beliebtes Stilmittel. Wer den politischen Gegner in die Nähe des rechten Milieus rückt, hat einen Widersacher weniger. Das hat schon bei unseren Vorfahren funktioniert. Eine Studie unter Leitung des US-Evolutionsanthropologen Daniel Fessler gelangte zu dem Schluss, dass es die Chancen auf Fortpflanzung verbesserte, andere zu desavouieren oder sich selbst gut darzustellen. Wer mit Moralisten debattiert, müsse also moralisch gegenhalten, sagt Wirtschaftsethiker Lütge. „Wer wie Hans-Werner Sinn auf Sachargumente setzt, wirkt wie ein kalter Technokrat.“

Und wer wie die Bundeskanzlerin aus moralischen Gründen Flüchtlinge ohne Obergrenzen aufnehmen will, der müsse nicht nur gering Qualifizierten erklären, dass sie bald Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bekommen – sondern auch die Bürger auf hohe Kosten einstimmen.

Wenn Moral ihre Umsetzungsbedingungen ignoriert, kann das schlimme Folgen haben. Das zeigt der Feldzug von Gegnern der Kinderarbeit in den Neunzigerjahren. Um ihre Schützlinge aus asiatischen Fabriken zu holen, riefen sie zu einem weltweiten Boykott der Teppiche auf. Kinder sollen nicht arbeiten, sondern lernen. So weit, so verständlich. Was die Gegner allerdings ignorierten: Die Kinder sicherten den Lebensunterhalt der Familie. Als die Teppichfabrikanten ihre Arbeitskräfte aus Angst vor finanziellen Einbußen feuerten, strömten die nicht wie gewünscht in die Schulen. Weil sie nicht verhungern wollten, gingen in Nepal von da an 7000 Mädchen auf den Strich.

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