Moralkeule Wir müssen aufhören, alles zu moralisieren

Richtig, falsch, herzlos oder vernünftig? Die Diskussion um die großen Probleme unserer Zeit ist durchtränkt von moralischen Vorwürfen. Das erschwert nicht nur die Lösung der Probleme - es hilft auch den Populisten.

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Was für ein Imagewandel. Noch im Sommer galt Bundeskanzlerin Angela Merkel als Erpresserin Griechenlands, weil sie weitere Hilfsmilliarden an Reformen knüpfte. „Kalt“, „herzlos“, „grausam“. Das waren die netteren Zuschreibungen.

Es folgt, was so oft passiert, wenn moralische Gebote eine öffentliche Debatte kapern. Die Politik beugt sich dem Druck der Empörten und entscheidet sich nicht für die beste Lösung – sondern die populärste: Die Bundesregierung stimmt dem nächsten Rettungspaket zu.

Merkel, das Gewissen Europas

Nur wenige Monate später fliegen Angela Merkel plötzlich die Herzen zu. Sie sagt: „Wir schaffen das.“ Und signalisiert Flüchtlingen, dass ihnen Deutschland offensteht. Ob es genug Kapazität für den Ansturm gibt? Egal. Merkels Geste deckt sich zunächst mit der Intuition vieler Bürger: Menschen in Not brauchen Hilfe. Koste es, was es wolle.

Die internationale Presse feiert die Bundeskanzlerin als „Gewissen Europas“ und „Mutter der Verstoßenen“. Endlich, so steht es in vielen Kommentaren, zeigt die nüchterne deutsche Physikerin Gefühle. Dass die Kanzlerin ihr Land womöglich überfordert und die Situation für Einwohner wie Einwanderer verschlechtern könnte? Spielt zunächst keine Rolle.

Das Beispiel von Merkel zeigt: Wer moralisiert, gewinnt. Herzen, Zustimmung, manchmal auch Wahlen. Ob Griechenland- und Flüchtlingskrise oder die Angst vor dem Freihandelsabkommen TTIP: Gerade wenn soziale und wirtschaftliche Belange miteinander konkurrieren, fluten die Gralshüter der Moral den Diskurs. Sie postulieren Altruismus, der das Eigeninteresse bändigen soll; verurteilen die Gier der Finanzmärkte oder den Egoismus der Konzerne; und fordern gerechte Löhne, auch wenn die nicht zu einer geringeren Produktivität passen.

Und siehe da: Die rhetorische Rattenfängerei wirkt. Solange die Menschen keine persönlichen Nachteile befürchten, stimmen sie in den Chor mit ein, der Verzicht und Solidarität fordert.

Kostenfrage geht in der Euphorie unter

Die Gegner haben es in dieser Gemengelage schwer. Wer wie der ifo-Präsident Hans-Werner Sinn auf die Grenzen moralischen Handelns verweist, indem er zum Beispiel nach den Kosten von Zuwanderung zu fragen wagt, wirkt im warmen Vollbad der Gefühle wie ein Eiswürfel. Ökonomische Argumente wie fehlende Unterkünfte, ein schlechtes Investitionsklima oder hohe Lohnnebenkosten? Sind für Moralisten kein Grund, warum etwas nicht funktioniert.

Deshalb drückt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles die Rente mit 63 durch. „Damit geben wir denen Anerkennung, die früh angefangen und viele Jahre ihren Beitrag geleistet haben“, sagte Nahles, „das ist verdient.“ Dass dafür die Bedingungen fehlen, weil wenige junge Menschen mehr Rentner versorgen müssen, Menschen länger leben und in Deutschland Fachkräfte fehlen, scheint nebensächlich.

Aber wo genau endet die Moral, wo beginnt der Moralismus? Der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge von der Technischen Universität München meint: Wenn Forderungen die Bedingungen für ihre Umsetzung ignorieren, dann haben sie nichts mehr mit Moral zu tun – sondern bedienen den Moralismus. Und das ist selten gut. Übrigens auch nicht für die vermeintlich gute Sache.

Moralisieren macht die Welt einfach

Dabei hat Moralisieren durchaus Charme: Es reduziert Komplexität, bietet einfache Erklärungen und entlastet davon, selbst zu denken. „Mit nichts lässt sich Inkompetenz besser kompensieren als mit Moral“, schrieb der Philosoph und Wissenschaftsjournalist Alexander Grau kürzlich im Politikmagazin „Cicero“. In dieser Gedankenwelt seien militärische Interventionen Verbrechen, große Einkommensunterschiede sozial ungerecht und Atomkraft Teufelszeug.

Abwägungen zwischen Kosten und Nutzen? Verzichtbar. Analysen des Einzelfalls? Überflüssig. Genau darin liegt auch der Reiz des Stilmittels für Politiker: Moralische Argumente helfen ihnen dabei, eigene Interessen durchzusetzen.

Moralismus folgt einem simplen Rezept. Die Argumente leben von Gegensätzen. Arm gegen Reich, Jung gegen Alt, Pegida-Anhänger gegen Moslems, Verzicht gegen Profitstreben. Doch wer gesellschaftliche Probleme so interpretiert, verdeckt Lösungen, von denen alle profitieren könnten. In dieser Gedankenwelt gibt es nur Sieger und Verlierer, deshalb kann die Debatte nie konstruktiv enden. Weil sie Menschen, Institutionen oder Länder in Täter und Opfer einteilt, in Ausbeuter und Ausgebeutete.

Der Moralismusfalle entkommen?

Deutlich wird das auch an der Diskussion um Flüchtlinge. Die Situation löst sich weder dadurch, dass Deutschland seine Grenzen für alle öffnet, noch durch eine komplette Grenzschließung. Ganz schön kompliziert. Umso verlockender ist der Griff in die Moralkiste – bloß führt die häufig direkt zu Konflikten, die sich mitunter in Gewalt entladen. Man denke an die Wutbürger der Pegida-Bewegung, die Flüchtlinge vor allem für Sozialschmarotzer halten. Oder die Ausschreitungen, die die Treffen der G7-Industrienationen regelmäßig begleiten. Wer fest daran glaubt, dass der Westen Entwicklungsländer ausnutzt und der Kapitalismus die Armen entrechtet, der wirft eben schon mal Steine.

Wie können Politiker der Moralismusfalle entkommen? Sie müssten vor allem darauf achten, dass sich moralische Forderungen und ihre Bedingungen nicht ausschließen, sagt Lütge. Das Alter für den Renteneintritt trotz der demografischen Situation zu senken ist ein Lehrstück dafür, wie man es nicht machen sollte. Doch wirklich verwunderlich ist das Beispiel nicht.

Moralverständnis der Vormorderne

Seit mehr als drei Jahrtausenden leben Menschen in Kleingesellschaften, Familien, Stämmen und Dörfern zusammen. Bräuche und Sitten halten diese Gruppen zusammen. Sie basieren auf den Erfahrungen, die sich für das Zusammenleben bewährt haben. Hier fällt es sofort auf, wenn jemand die Regeln bricht. Eine Strafe garantiert, dass gewisse Normen gelten. In diesen Strukturen funktioniert soziale Kontrolle über moralische Gebote bestens.

Sen über Märkte, Moral und Demokratie

Doch mit der Modernisierung begann dieses System zu bröckeln, sagt der Wirtschaftsethiker Karl Homann, emeritierter Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Durch Industrialisierung, Arbeitsteilung, Wettbewerb, Marktwirtschaft und Globalisierung definieren sich Menschen nicht mehr nur über die Mitgliedschaft in ihrer sozialen Gruppe. Diese verlor an Autorität, ebenso wie der Nationalstaat. Es ist nun einfacher, nationale Gesetze zu umgehen. Verbietet Deutschland die Eizellenspende, buchen Paare eben den Flug nach Großbritannien, wo diese Art der künstlichen Befruchtung legal ist.

Moral, die zuvor den Zusammenhalt kleiner Gruppen gefestigt hat, taugt in solchen Strukturen nicht mehr. Denn die Menschen sind hochmobil und bewegen sich in unterschiedlichen Subsystemen wie Politik, Unternehmen oder der Wissenschaft – und die folgen jeweils eigenen Gesetzen. Doch mit der Erosion solcher Ordnungen schwindet auch die soziale Kontrolle. Das führt regelmäßig zu beklagenswerten Zuständen. Korruption, Menschenhandel, Textilkonzerne, die Flüsse vergiften. Die Fremdkontrolle, die in vormodernen Gesellschaften wirkte, hat ihre Grenzen erreicht.

Moderne Ethik braucht Eigenkontrolle

Genau wie ein Verständnis von Ethik, das weiterhin auf Tugendschulung setzt. Wie in traditionellen Gesellschaften will es Akteure allein über die persönliche Motivation steuern. Doch dadurch verliert die Moral – wenn die Rahmenbedingungen vermeintlich moralisches Verhalten nicht belohnen oder sogar bestrafen. Auch in der Unternehmenswelt. Ohne verbindliche, internationale Regeln sichern sich Konzerne, die auf teure Umweltstandards verzichten, Vorteile gegenüber klimabewussten Wettbewerbern. Denn gerade in einer globalisierten Welt bringt das Vorteile. Was also tun?

Moderne Ethik müsste die Markt- und Handlungsbedingungen verändern und auf Eigen- statt Selbstkontrolle setzen. Sie müsste die Bedingungen so gestalten, dass moralisch erwünschtes Verhalten Vorteile bringt – oder zumindest keine Nachteile. Wer Umweltverschmutzung eindämmen will, sollte also nicht gegen Unternehmen polemisieren. Sondern dafür sorgen, dass Gesetze Übeltätern tatsächlich schmerzhafte Strafen auferlegen. Nur dann werden sie befolgt. Die Kosten, die in der Dieselgate-Affäre auf Volkswagen zukommen, dürften Nachahmer abschrecken. Betrug, so die notwendige Botschaft, darf kein Wettbewerbsvorteil sein – sondern muss in finanziellen Einbußen und Reputationsverlust münden. Sobald sich Schlupflöcher auftun, erodiert die Moral.

Die Gesellschaft entscheidet über Moral

Das gilt nicht nur für Unternehmen, Länder und Institutionen. Empirische Studien belegen, dass auch im Kleinen Betrügereien gedeihen, wenn sich Vorteile bieten. Nach Aussage der Wissenschaftlerin Francesca Gino, die an der Harvard-Universität zu Verhaltensökonomie forscht, schummeln Menschen immer dann, wenn sie meinen, damit durchzukommen. Das betrifft auch jene, die sich für ehrlich halten. Besonders beliebt: Tricksereien bei der Steuer, zu hohe Spesenabrechnungen, Diebstahl. Pro Jahr entsteht US-Arbeitgebern durch klauende Mitarbeiter ein Schaden von 52 Milliarden Dollar.

Was moralisch erwünscht ist, entscheidet die Gesellschaft. Dass Menschen auch tun, was sie sollen, erreichen sie durch passende Spielregeln. Lautet das moralische Gebot Fairness, müssen sie Fouls wie beim Fußball sanktionieren. Wer bei Verstand ist, grätscht dem Gegner nicht ständig in die Beine und sammelt Platzverweise. Der entscheidende Unterschied zur Tugendethik aus den Kleingesellschaften: Die Spieler lassen sich nicht wegen antrainiertem Altruismus von Fouls abhalten, sondern aus Eigeninteresse. Fernab dieser Regeln gilt Wettbewerb – keine Mannschaft würde von ihrem Gegner erwarten, aus Mitgefühl am Tor vorbeizuschießen.

Unerwünschtes Verhalten darf nicht belohnt werden

Umso wichtiger ist es, unerwünschte Spielzüge nicht zu belohnen. Wenn die EU etwa klamme Mitgliedsländer finanziert, fehlt ihnen der Anreiz für Reformen. Das setzt einen Kreislauf aus weiteren Transfers in Gang. In modernen Gesellschaften handeln Akteure nur dann dauerhaft moralisch, wenn die Spielregeln sie zwingen. Daher ist es sinnlos, moralisch aufzurüsten, um Verhalten im großen Stil zu verändern. Verbesserungen ergeben sich nur auf Ebene der Rahmenbedingungen. Zentral ist dabei der Rechtsgrundsatz: „Ultra posse nemo obligatur“ – Sollen setzt Können voraus. Keine Ethik kann von Bürgern, Politikern oder Unternehmern verlangen, dauerhaft gegen die eigenen Interessen zu handeln.

Diese Organisationen halten die Deutschen für besonders wichtig fürs Gemeinwohl

Wer moralisiert, fühlt sich im Recht. Das wäre noch zu ertragen. Doch kann er damit auch anderen schaden. Wer den Kontrahenten verunglimpfen will, nennt ihn sexistisch, neoliberal oder, in Deutschland besonders effektiv: rechts. Forscher bezeichnen solche Angriffe als Ad-Hominem-Argumente, weil sie sich gegen die Person oder ihre Eigenschaften wenden. Sie folgen dem Muster: Person A (Horst Seehofer) hat den Makel B (flirtet mit Wählern vom rechten Rand), folglich sind dessen Forderungen (Zuwanderung von Flüchtlingen begrenzen) falsch.

Politische Gegner werden desavouiert

Ein beliebtes Stilmittel. Wer den politischen Gegner in die Nähe des rechten Milieus rückt, hat einen Widersacher weniger. Das hat schon bei unseren Vorfahren funktioniert. Eine Studie unter Leitung des US-Evolutionsanthropologen Daniel Fessler gelangte zu dem Schluss, dass es die Chancen auf Fortpflanzung verbesserte, andere zu desavouieren oder sich selbst gut darzustellen. Wer mit Moralisten debattiert, müsse also moralisch gegenhalten, sagt Wirtschaftsethiker Lütge. „Wer wie Hans-Werner Sinn auf Sachargumente setzt, wirkt wie ein kalter Technokrat.“

Und wer wie die Bundeskanzlerin aus moralischen Gründen Flüchtlinge ohne Obergrenzen aufnehmen will, der müsse nicht nur gering Qualifizierten erklären, dass sie bald Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt bekommen – sondern auch die Bürger auf hohe Kosten einstimmen.

Wenn Moral ihre Umsetzungsbedingungen ignoriert, kann das schlimme Folgen haben. Das zeigt der Feldzug von Gegnern der Kinderarbeit in den Neunzigerjahren. Um ihre Schützlinge aus asiatischen Fabriken zu holen, riefen sie zu einem weltweiten Boykott der Teppiche auf. Kinder sollen nicht arbeiten, sondern lernen. So weit, so verständlich. Was die Gegner allerdings ignorierten: Die Kinder sicherten den Lebensunterhalt der Familie. Als die Teppichfabrikanten ihre Arbeitskräfte aus Angst vor finanziellen Einbußen feuerten, strömten die nicht wie gewünscht in die Schulen. Weil sie nicht verhungern wollten, gingen in Nepal von da an 7000 Mädchen auf den Strich.

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