Nach Attacken in Deutschland Die offene Gesellschaft ist tot – es lebe die offene Gesellschaft!

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Ein Beispiel zur Balance

Großzügigkeit ist eine christliche Tugend und für viele ein Wert, der gerade in Zeiten von Flüchtlingskrisen besondere Beachtung genießt. Was Großzügigkeit aber genau ist, hängt sehr vom Kontext ab. Nehmen Sie den Fall, dass Ihr Lebenspartner sich großzügig zeigt, indem er Sie hin und wieder zum Essen einlädt. Das werden Sie ohne Frage schätzen. Was aber, wenn Ihr Lebenspartner nicht nur Sie, sondern jedes Mal gleich das ganze Lokal miteinlädt? Dann hätten Sie vermutlich ein Problem damit, weil seine Großzügigkeit zur Verschwendung wird und somit zu einem Unwert, wie es Friedemann Schulz von Thun in seinem Wertequadrat nennt.

Folgt man dem Gedanken des Wertequadrates weiter, so lässt sich im Kontext von Großzügigkeit auch der Fall konstruieren, dass Sie von Ihrem Lebenspartner nie zum Essen eingeladen werden – nicht einmal zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Dann zeigt sich Ihr Lebenspartner geizig und der Gegensatz zur Großzügigkeit ist gefunden: Geiz.

Das rechte Maß finden

Wichtig an dieser Stelle ist die Fortführung des am Quadrat orientierten Gedankenganges, dass es nämlich ein Maß an Geiz gibt, das durchaus positiv zu verstehen ist. Die Rede ist von der Sparsamkeit. Keiner erwartet von seinem Lebenspartner, dass man ständig zum Essen eingeladen wird, sondern vielleicht hin und wieder, und sicherlich entwickelt jeder Verständnis dafür, wenn der Lebenspartner Geld spart, um es für sich in anderen Situationen zur Verfügung zu haben. Infolgedessen lassen sich im konstruierten Fall, aber auch in jedem anderen Entscheidungskontext, zwei Werte finden, die beide positiv zu sehen sind und aber in ein und derselben Situation virulent werden können: Großzügigkeit und Sparsamkeit.

Das rechte Maß zeigt sich schließlich daran, wie es einem gelingt, eine sinnvolle Balance zwischen zwei Werten zu finden, ohne in ein Extrem, einen Unwert abzugleiten. Im genannten Beispiel wären das der Geiz und die Verschwendung.

Das mit diesem Beispiel veranschaulichte Problem der Nichtselbstverständlichkeit des Selbstverständlichen ist auch für die Neubestimmung der offenen Gesellschaft bedeutsam. Denn auch Freiheit als das zentrale Kennzeichen ist nur ein Wert, dem ein positiver Gegenwert nebenan gestellt werden kann.

Bereits Friedrich Daniel Ernst Schleichermacher hat darauf hingewiesen, dass Freiheit ohne Grenzen aufhört, Freiheit zu sein. Denn dort, wo keine Grenzen mehr bestehen, wird sie zur Beliebigkeit. Und dort wo keine Freiheit mehr existiert, werden Grenzen zu Verboten. Der Gegenwert zur Freiheit ist folglich das Verbot – häufig in Gang gesetzt durch noch mehr Gesetze, durch noch mehr staatliche Richtlinien, durch noch mehr Polizei usw. usf.

Die offene Gesellschaft schafft sich selbst ab

Angesichts der aktuellen Entwicklungen lässt sich schließen: Die offene Gesellschaft ist dabei, sich gerade selbst abzuschaffen und zu einem Verbotsstatt zu werden. Gibt es also einen Ausweg aus dieser Selbstaufgabe? Die Übung in ethischer Reflexion weist den Weg: Es sind die Grenzen, die zu ziehen sind, und im Kontext der offenen Gesellschaft sind es Werte, die diese Grenzen setzen: Globalisierung auf der einen Seite – aber auch Lokalisierung auf der anderen? Multikulturalität auf der einen Seite – aber auch Kulturalität auf der anderen? Meinungsfreiheit auf der einen Seite – aber auch Meinungsbegrenzen auf der anderen? Religionsfreiheit auf der einen Seite – aber auch Religionsbegrenzung auf der anderen? Dabei zeigt sich wohl nur eine Maxime als indiskutabel, die weniger ein Wert, als eine tiefe Erkenntnis darstellt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar – wird diese verletzt, findet Meinungsfreiheit ihre Begrenzung; wird diese verletzt, findet Religionsfreiheit ihre Begrenzung.

Ob ein Lied über einen Staatsmann, ein Cartoon über einen Glaubensführer, ein Computerspiel, eine Kopfbedeckung – diese Fragen und viele andere mehr sind zu diskutieren. Sie nicht zu diskutieren gleicht Denkverboten und ist das Ende der Demokratie. Deutschland braucht also mehr denn je diese Diskussionen über Werte, um Grenzen zu ziehen und einen ethischen Minimalkosens für den Erhalt der offenen Gesellschaft herzustellen: Es lebe die offene Gesellschaft!

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