Eineinhalb Wochen nach dem Lkw-Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt stehen die Ermittler auf der Suche nach Hintermännern mit leeren Händen da. Ein vorläufig festgenommener Tunesier, dessen Nummer der mutmaßliche Attentäter Anis Amri in seinem Handy hatte, ist nicht die gesuchte Kontaktperson Amris und deshalb wieder auf freiem Fuß. Ermittlungen zu Tatbeteiligten, Helfern und Mitwissern liefen „mit unveränderter Intensität“ weiter, sagte eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft.
Ein Video, in dem der Tunesier Amri sich zur Terrormiliz Islamischer Staat bekannt hat, hält die Karlsruher Behörde für authentisch. Das IS-Sprachrohr Amak hatte den dreiminütige Film veröffentlicht, nachdem Polizisten in Italien den 24-Jährigen erschossen hatten. Darin schwört Amri dem IS-Anführer Abu Bakr al-Bagdadi die Treue. Bei dem Anschlag vom 19. Dezember wurden zwölf Menschen getötet und mehr als 50 verletzt. Es wäre der schwerste islamistische Anschlag in der Geschichte Deutschlands.
Den Ermittlungen zufolge hat ein automatisches Bremssystem in dem Lastwagen, mit dem der Attentäter auf den Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche fuhr, noch Schlimmeres verhindert. Das Bremssystem habe das Fahrzeug nach 70 bis 80 Metern zum Stehen gebracht, sagte die Sprecherin der Karlsruher Ermittlungsbehörde.
Große Terroranschläge in Europa
Ein Lieferwagen rast auf der Flaniermeile "Las Ramblas" im Zentrum Barcelonas in eine Menschenmenge. Nach offiziellen Angaben soll es mindestens einen Toten und 32 Verletzte gegeben haben, Medien berichten von zwölf Toten. Die Polizei bestätigt, dass es sich um einen Terroranschlag handelt. Die Hintergründe der Tat sind zunächst unklar.
Auf der London Bridge überfahren drei Attentäter mehrere Fußgänger, dann greifen sie eine beliebte Markthalle an. Mindestens sechs Menschen kommen ums Leben, die Angreifer werden getötet.
Bei dem Selbstmordanschlag in Manchester auf Gäste eines Pop-Konzerts hatte Salman Abedi, ein Brite libyscher Abstammung, 22 Menschen ermordet. Außerdem wurden 116 Menschen zur Behandlung von Verletzungen in Krankenhäuser gebracht. Die Polizei geht davon aus, dass Abedi kein Einzeltäter war, sondern dass ein ganzes Terrornetzwerk hinter der Tat steckt.
Auf dem Pariser Boulevard Champs-Élysées schießt ein Islamist mit einem Sturmgewehr in einen Polizeiwagen. Ein Beamter wird getötet, zwei weitere Polizisten und eine deutsche Passantin werden verletzt. Die Polizei erschießt den Angreifer, die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) reklamiert die Attacke für sich.
Ein gekaperter Lastwagen rast in einer Einkaufsstraße erst in Stockholm in eine Menschenmenge und dann in ein Kaufhaus. Fünf Menschen werden getötet, 15 verletzt. Noch am selben Tag nimmt die Polizei einen 39-jährigen Usbeken unter Terrorverdacht fest.
Ein Attentäter steuert ein Auto absichtlich in Fußgänger auf einer Brücke im Zentrum Londons und ersticht anschließend einen Polizisten. Von den Opfern auf der Brücke erliegen vier ihren Verletzungen. Sicherheitskräfte erschießen den Täter.
Auf dem Pariser Flughafen Orly verhindern Soldaten nur knapp einen möglichen Terroranschlag. Ein Mann will einer dort patrouillierenden Soldatin das Gewehr entreißen und wird von anderen Soldaten erschossen. Erst Anfang Februar war nahe dem Louvre-Museum ein Ägypter niedergeschossen worden, der sich mit Macheten auf eine Militärpatrouille gestürzt hatte.
Am Abend des 19. Dezember 2016 rast ein LKW in einen Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche. Das Attentat fordert 12 Tote und viele teils Schwerverletzte.
In Nordfrankreich ermorden zwei Angreifer einen katholischen Priester in einer Kirche und verletzen eine weitere Person schwer. Beide Attentäter werden von den Sicherheitskräften erschossen.
In Ansbach in Bayern sprengt sich ein 27-jähriger syrischer Flüchtling vor dem Eingang zu einem Musikfestival mit einer Rucksackbombe in die Luft. Der Attentäter stirbt. 15 Menschen werden verletzt. Auf dem Handy des Mannes findet die Polizei später ein Bekennervideo. Das IS-Sprachrohr Amak behauptet einen Tag später, der Attentäter sei „Soldat des Islamischen Staates“.
In einem Vorort von Würzburg greift ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan in einem Regionalzug Fahrgäste mit einer Axt an. Er verletzt mehrere Menschen teils schwer. Auf seiner Flucht wird er von der Polizei erschossen. Einen Tag später veröffentlichte das IS-Sprachrohr Amak im Internet ein Video des Attentäters. Darin spricht er davon, dass er im Auftrag des IS gehandelt habe und sich an Nicht-Muslimen rächen wollte, die seinen Glaubensbrüdern Leid angetan hätten.
In Nizza fährt ein schwer bewaffneter Franzose tunesischer Herkunft mit einem Lastwagen in die Menge, die den französischen Nationalfeiertag feiert. Er tötet 84 Menschen.
Am Flughafen Istanbul-Atatürk schoss am 28. Juni 2016 ein Attentäter in der Eingangshalle mit einem Sturmgewehr um sich, warf Handgranaten in die Menge und zündete einen Sprengsatz. Zeitgleich sprengte sich ein weiterer Attentäter in einem Parkhaus in die Luft. Ein dritter Täter zündete offenbar einen Bombe in U-Bahn-Nähe. Die türkische Regierung ordnet den Anschlag dem Islamischen Staat zu. Insgesamt kamen 44 Menschen ums Leben (darunter die drei Attentäter); 239 weitere wurden verletzt. (Stand: 29.06.2016, 14:30 Uhr)
Ein Franzose marokkanischer Herkunft ermordet in einem Pariser Vorort einen Polizisten und dessen Lebensgefährtin, die ebenfalls bei der Polizei arbeitet.
Am Morgen des 22. März 2016 sprengten sich zwei Terroristen am Flughafen Brüssel-Zaventem in die Luft sowie ein weiterer im U-Bahnhof Maalbeek/Maelbeek in der Brüsseler Innenstadt nahe der EU-Behörden. Nach offiziellen Angaben kamen 35 Menschen ums Leben, darunter drei der Attentäter. Mehr als 300 Personen wurden verletzt.
Zwei Attentäter brachten ihr gestohlenes Auto an der Bushaltestelle einer Metrostation im Stadtzentrum von Ankara zur Explosion – 38 Menschen kamen ums Leben, darunter waren auch die Attentäter. Mehr als 120 Menschen wurden verletzt. Zu dem Anschlag, der sich am 13. März 2016 ereignete, bekannte sich eine Splittergruppe der Terrororganisation PKK.
Ein IS-Attentäter sprengte sich am 12. Januar 2016 auf dem belebten Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul in die Luft – und riss 12 Menschen mit in den Tod. Elf von ihnen gehörten einer deutschen Touristengruppe an. 13 weitere Personen wurden verletzt.
Extremisten mit Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat greifen die Konzerthalle Bataclan und andere Ziele in der französischen Hauptstadt Paris an. Dabei kommen 130 Menschen ums Leben. Ein Hauptverdächtiger im Zusammenhang mit den Angriffen ist der 26 Jahre alte Salah Abdeslam, der am 18. März 2016 in Brüssel festgenommen wird.
Ein 22-jähriger radikalislamischer Angreifer tötet den Filmemacher Finn Nørgaard und einen jüdischen Wachmann einer Synagoge in Kopenhagen. Bei einem Feuergefecht mit einer Spezialeinheit der Polizei wird er erschossen.
Drei Extremisten töten bei einer mehrere Tage dauernden Terrorwelle in Paris 17 Menschen, bevor sie selbst erschossen werden. Zunächst greifen zwei Brüder das Büro der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ an und erschießen zwölf Menschen. Für den den Angriff übernimmt Al-Kaida auf der arabischen Halbinsel die Verantwortung. In den Tagen darauf tötet ein weiterer Extremist eine Polizistin und nimmt in einem koscheren Supermarkt Geiseln. Vier jüdische Kunden sterben.
Im Jüdischen Museum in Brüssel tötet ein Angreifer mit einer Kalaschnikow vier Menschen. Der mutmaßliche Täter ist ein ehemaliger französischer Kämpfer, der Verbindungen zur Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien haben soll.
Zwei von Al-Kaida inspirierte Extremisten greifen auf einer Londoner Straße den britischen Soldaten Lee Rigby an und töten ihn mit Messern und einem Fleischerbeil.
Ein Bewaffneter, der nach eigenen Angaben Verbindungen zur Al-Kaida hat, tötet in der südfranzösischen Stadt Toulouse drei jüdische Schulkinder, einen Rabbi sowie drei Fallschirmjäger.
Der muslimfeindliche Extremist Anders Behring Breivik legt eine Bombe im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo und greift anschließend ein Jugendlager auf der Insel Utøya an. 77 Menschen werden getötet, viele davon Teenager.
52 Pendler kommen ums Leben, als sich vier von Al-Kaida inspirierte Selbstmordattentäter in drei Zügen der Londoner U-Bahn und einem Bus in die Luft sprengen.
Bombenanschläge auf Züge zum Madrider Bahnhof Atocha töten 191 Menschen.
Als sicher gilt inzwischen, dass Amri über die Niederlande und Frankreich nach Italien floh. Die Ermittlungen zu Videos aus Überwachungskameras, die ihn örtlichen Behörden zufolge unter anderem in Lyon und Turin zeigen, laufen laut Bundesanwaltschaft noch. Ein Zugticket, dass man bei Amri gefunden habe, belege einen Weg vom französischen Chambéry nach Mailand. Auch mit einem Fernbus soll der Tunesier nach dem Anschlag unterwegs gewesen sein. „Wir stehen im engen Austausch mit internationalen Ermittlungsbehörden“, sagte die Sprecherin des Unternehmens Flixbus am Donnerstag.
Noch nicht geklärt ist, ob Amri in Italien mit der selben Waffe auf Polizisten geschossen hat, die auch im Führerhaus des Lkw in Berlin verwendet wurde. Das Kaliber sei das gleiche, sagte die Sprecherin der Bundesanwaltschaft. Für weitere ballistische Untersuchungen sei ein Abdruck des Projektils, das man im Laster gefunden habe, nach Italien geschickt worden.
Offen bleibt vorerst auch, wann der polnische Fahrer starb, mit dessen Lkw der Anschlag verübt worden war. Rettungskräfte hatten ihn auf dem Beifahrersitz gefunden. Mit Messerstichen sei er einem vorläufigen Obduktionsbericht zufolge nicht verletzt worden, sagte die Sprecherin. Der Todeszeitpunkt liege demnach „in zeitlicher Nähe zum Anschlagszeitpunkt“. Klarheit soll der endgültige Obduktionsbericht bringen, der für Januar angekündigt ist.
Zum Hergang der Tat, zur Fluchtroute und zur Identität der Opfer sind noch immer viele Fragen offen. Auch in Italien laufen Ermittlungen zu möglichen Unterstützern Amris. Bisher habe sich aber nicht erwiesen, dass er ein spezielles Netzwerk gehabt habe, sagte Ministerpräsident Paolo Gentiloni.
Immer deutlicher wird, dass Amri mehrfach im Fokus von Ermittlungsbehörden stand. Nach Informationen von „Süddeutscher Zeitung“, NDR und WDR wurde im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) in Berlin zwischen Februar und November 2016 mindestens sieben Mal über Amri gesprochen. Behördenunterlagen, die nur fünf Tage vor der Tat entstanden, beschrieben demnach seinen Werdegang in Deutschland.
Die Staatsanwaltschaft in Duisburg hatte ein Ermittlungsverfahren wegen Betrugs im April eröffnet, wie ein Sprecher sagte. Zuvor hatte „Spiegel Online“ berichtet. Amri nutze mehrere Identitäten und beantragte Sozialleistungen unter verschiedenen Namen.
Auch bei der Berliner Staatsanwaltschaft wurde Amri aktenkundig. Innenstaatssekretär Torsten Akmann hatte bei einer Innenausschusssitzung nach dem Anschlag berichtet, dass es gegen den Tunesier 2015 zwei Ermittlungsverfahren gab. In einem Fall sei es um Verdacht auf Körperverletzung auf dem Gelände des Berliner Flüchtlingsamtes Lageso gegangen, in einem anderen um „mittelbare Falschbeurkundung“. Der „Spiegel“ schreibt, vor dem Lageso solle Amri einem Wachmann ins Gesicht geboxt haben. Er sei offenbar unter dem Namen „Ahmad Zaghoul“ aufgetreten.
Die Opposition im Bundestag fordert Aufklärung darüber, welche Informationen den Behörden vor dem Anschlag über Anis Amri vorlagen. „Wir reden über Videoüberwachung und Fußfesseln, aber über das, was falsch gelaufen ist, reden wir nicht“, sagte der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz der Deutschen Presse-Agentur.
Sein Fraktionskollege Hans-Christian Ströbele sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, man werde im Eilverfahren einen Untersuchungsausschuss beantragen, falls nicht schnell klare Informationen kämen. Auch die Linksfraktion kündigte in der „Berliner Zeitung“ an, nach der Wahl notfalls einen Ausschuss zu beantragen.
Die Opposition im Düsseldorfer Landtag verlangt ebenfalls Aufklärung. Auf Antrag von CDU, FDP und Piraten beschäftigt sich der dortige Innenausschuss in einer Sondersitzung am 5. Januar mit dem Fall.