Nach Protesten von EU-Partnern wird der Mindestlohn für ausländische Lkw-Fahrer auf reiner Durchreise durch Deutschland vorerst ausgesetzt. Dies gelte als „Zeichen guter Nachbarschaft“ bis zur Klärung europarechtlicher Fragen, sagte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) nach einem Gespräch mit ihrem polnischen Kollegen Wladyslaw Kosiniak-Kamysz am Freitag in Berlin. Ein entsprechendes EU-Prüfverfahren dürfte bis zum Sommer abgeschlossen sein. In Kraft bleiben die Mindestlohn-Vorschriften allerdings für Lastwagen, die in Deutschland be- und entladen werden. Mehrere EU-Staaten hatten unter anderem auch bürokratische Vorgaben und Kontrollpflichten kritisiert.
Nahles räumte ein, dass die Durchsetzung des seit 1. Januar geltenden gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro pro Stunde in diesem Punkt zu Unruhe in Nachbarländern geführt hat. „Wir möchten nicht, dass die Einführung des Mindestlohns in Deutschland durch einen Rechtsstreit im Kreis der Mitgliedsstaaten belastet wird.“ Übergangsweise werden daher für reine Transitfahrten Kontrollen ausgesetzt. Ausländische Speditionen müssen keine Aufzeichnungen erstellen. Nahles betonte, die Bundesregierung halte die Regeln aber für europarechtskonform.
Hier spüren Verbraucher den Mindestlohn
Das Friseurhandwerk gilt als klassische Niedriglohnbranche. Über einen Branchentarifvertrag gibt es hier schon seit mehr als einem Jahr einen Mindestlohn, der zum 1. August 2015 auf 8,50 Euro steigt.
Zum 1. August 2013 hatten sich Handwerk und die Gewerkschaft Verdi auf eine bundesweite Lohnuntergrenze geeinigt, die nun schrittweise steigt. Vor allen in Großstädten machen sich Friseure große Konkurrenz. Stundenlöhne um vier Euro waren in früheren Zeiten nicht ausgeschlossen. Deutliche Preissteigerungen gab es schon und wird es nach Ansicht der Branche vor allem dort geben, wo die Löhne bisher nicht stimmten.
Auch hier werden Kunden bald tiefer in die Tasche greifen müssen. Bisher zahlt die Branche nach Schätzungen des Deutschen Taxi- und Mietwagenverbands rund 6,50 Euro pro Stunde. Der Lohn ist dabei oft am Umsatz orientiert. Die Tarife werden von den Kommunen festgelegt.
An ihre Adresse gibt es bereits viele Anträge auf Preiserhöhungen, im Schnitt von 20 bis 25 Prozent. Die Branche rechnet aber auch damit, dass Unternehmen die Anzahl ihrer Wagen reduzieren und Stellen streichen könnten. Branchenkenner halten Tricksereien für möglich, um den Mindestlohn zu umgehen. In jedem Fall steht die Branche vor großen Umstrukturierungen.
Viele Obst- und Gemüsebauern gehen davon aus, dass ihre Preise steigen, zum Beispiel für Erdbeeren, Spargel, Sauerkirschen und Äpfel. Denn der Mindestlohn gilt auch für Erntehelfer - allerdings noch nicht sofort.
Für Saisonarbeiter in der Land- und Forstwirtschaft sowie im Gartenbau soll der Stundenlohn hier schrittweise ab 2015 von 7,40 im Westen und 7,20 im Osten auf einheitliche 9,10 Euro im Jahr 2017 steigen. Viele Landwirte sehen das als Wettbewerbsnachteil in der EU. In anderen Staaten gebe es zwar auch Mindestlöhne, aber sie lägen deutlich niedriger.
Einen Mindestlohn in der Pflegebranche gibt es bereits seit Mitte 2010. Zurzeit liegt er im Westen bei 9 und im Osten bei 8 Euro. Ab Januar 2015 sind es dann 9,40 Euro und 8,65 Euro. Das gilt für Betriebe - vom Pflegeheim bis zu ambulanten Diensten. In zwei Schritten soll der Mindestlohn bis Januar 2017 auf 10,20 Euro pro Stunde im Westen und 9,50 Euro im Osten steigen. Ab 1. Oktober 2015 solle der Pflegemindestlohn neu auch für Betreuungs- und Assistenzkräfte in Heimen gelten.
Privathaushalte, die eine Pflegekraft beschäftigen, sollen ab Januar den allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro zahlen. Der Arbeitgeberverband Pflege geht davon aus, dass Pflege damit teurer wird - allerdings nicht sofort und auch nicht in riesigen Sprüngen. Denn bereits jetzt verdiene die Mehrzahl der Pflegehilfskräfte mehr als den Mindestlohn, sagte Sprecher Steffen Ritter. Auch stiegen die Beiträge zur Pflegeversicherung in den kommenden Jahren um rund einen Prozentpunkt an und federten die Lohnsteigerungen ein wenig ab.
Dagegen protestieren vor allem Polen und Tschechien. Branchenverbände fürchten um die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen. Sie warnten, höhere Kosten im Transportgewerbe könnten polnische und tschechische Firmen in die Pleite treiben. Kontrollieren soll den Mindestlohn bei Lkw-Fahrern der deutsche Zoll, etwa durch Prüfung von Unterlagen.
Der polnische Minister Kosiniak-Kamysz nannte das teilweise Aussetzen des Mindestlohns einen „ersten Schritt in die richtige Richtung“. Er bekräftigte aber, dass die Regeln aus Sicht Polens nicht kompatibel mit EU-Recht seien. Nahles kündigte weitere Gespräche zwischen beiden Ländern an, etwa über eine Vereinfachung von Dokumentationspflichten.
Eingeschaltet hatten sich auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Polens Ministerpräsidentin Ewa Kopacz, wie der polnische Minister mitteilte. „Die Lösung liegt bei der Europäischen Kommission“, sagte Kopacz in Paris. Ein Sprecher der EU-Behörde bekräftigte in Brüssel, dass das deutsche Mindestlohngesetz „in vollem Einklang mit dem sozialpolitischen Engagement der EU-Kommission“ stehe. Es müsse aber in Übereinstimmung mit europäischem Recht angewendet werden.
Die Aussetzung befeuerte die Debatte über den Mindestlohn im Inland. Unions-Fraktionsvize Michael Fuchs (CDU) sagte, nun müsse Nahles „endlich auch die Bürokratie-Sorgen der Unternehmer bei uns im Land ernst nehmen.“ Bei Dokumentationspflichten sei zügig nachzubessern.