Nachdruck aus Heft 8/1977 "Den Markt besser begreifen"

1974 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet, überrascht Friedrich August von Hayek ,77, erneut mit provozierenden Thesen zur Staatsverfassung.

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Wirtschaftsliberaler Hayek Quelle: Nobel Media

WirtschaftsWoche: Herr Hayek, viele Indikatoren sprechen dafür, dass die konjunkturelle Belebung wieder abflaut – noch bevor sie in Schwung gekommen ist. Was ist der Grund dafür?

Hayek: Mich hat das eigentlich nicht überrascht. Die ganze letzte Konjunktur basierte doch auf der Erwartung einer sich beschleunigenden Inflation. 20 Jahre lang haben wir durch ständige Kreditexpansion Produktionsfaktoren, vor allem Arbeitskraft, in Beschäftigungen gelockt, wo sie nur dann weiter beschäftigt werden können, wenn die Inflation sich weiter beschleunigt. Deshalb setzt heute Vollbeschäftigung bei stabilem Geldwert eine Umgruppierung der Produktionsfaktoren voraus.

An welche Bereiche denken Sie?

Vor allem an die Kapitalgüterindustrie einschließlich der Bauindustrie. Allerdings muss ich dazu sagen, dass das heutzutage nicht mehr so leicht zu beantworten ist. In den klassischen Konjunkturzyklen war das noch sehr klar und einfach. Damals wurde die Expansion durch Bankenkredite für industrielle Investitionen finanziert, und daher traten die Übersteigerungen fast ausschließlich im Bereich der Kapitalgüterindustrie auf. Heute dagegen ist ein großer Teil der Überentwicklung durch staatlich finanzierte Auslagen verursacht. Man müsse daher für jedes einzelne Land gesondert untersuchen, wo die Nachfragespritzen hauptsächlich hingegangen sind. Tatsache ist aber: Wenn wir auf Inflation verzichten wollen, wird es zu einer ziemlich langen Periode der Anpassung kommen müssen, in der der Markt allein herausfinden muss, wo auch längerfristig stabile Entwicklungen zu erwarten sind.

Sie waren einer der führenden und energischsten Kritiker der Lehren von Keynes. Wenn Sie auf die letzten 30 Jahre zurückblicken, glauben Sie, dass die Wirksamkeit der Wirtschaftspolitik von diesen Lehren profitiert hat?

Nein, die Wirtschaftspolitik ist auf falsche Wege geleitet worden. Die Theorie von Keynes beruht ja auf einer grundlegenden Annahme, die fast alle seine Anhänger unkritisch akzeptiert haben, die aber falsch ist. Die Prämisse dieser Theorie ist, dass die Beschäftigung eine direkte Funktion der Gesamtnachfrage ist. Und daraus abgeleitet die Annahme, dass man jede Beschäftigungslosigkeit kurieren kann, indem man die Gesamtnachfrage steigert. Das ist aber das Resultat der Diagnose einer sehr speziellen Situation. Die Situation, in der Arbeitslosigkeit nur dadurch bedingt ist, dass alle Löhne zu hoch sind, ist eine Ausnahme. Die normale Ursache der Arbeitslosigkeit ist, dass die Nachfrage zwischen den verschiedenen Branchen und Sparten anders verteilt ist als das Angebot. Und dies lässt sich nicht durch eine Vermehrung der Gesamtnachfrage korrigieren.

Auch heute ist das Zentralthema die Beseitigung der Arbeitslosigkeit. Sehen Sie in den verschiedenen Varianten staatlicher Investitionslenkung einen Weg, der die Arbeitslosigkeit beseitigen kann?

Nein, solange der Staat sich mit der Frage beschäftigt, wo er bestimmte Leute beschäftigen kann, führt das immer zu Fehlleitungen. Der Staat sollte für einen wirklich funktionierenden Markt sorgen.

Eine Medaille mit dem Quelle: dpa

Nun haben wir ja nicht mehr Wettbewerb, sondern zum Teil Oligopole und Monopole. Würde das nicht bedeuten, dass Entflechtungsmaßnahmen eingeleitet werden müssen, damit die Marktmechanismen zum Zuge kommen?

Solange Monopole und Oligopole nur darauf beruhen, dass die Produzenten billiger produzieren können als andere, richten sie weder Schaden an noch sind sie zu verhindern. Notwendig ist allein, dass jeder Produzent, wenn er es besser kann, in den Markt eindringen kann. Das Wesentliche ist, dass die potenzielle Konkurrenz immer da ist.

Sie haben Ihrem Buch „The Constitution of Liberty“ ein Zitat vorausgeschickt: „Wir suchen nicht nach Vollkommenheit, da wir nur zu gut wissen, dass diese in menschlichen Dingen nicht zu finden ist, sondern nach jener Verfassung, die von den geringsten oder unscheinbarsten Unzulänglichkeiten begleitet ist.“ Was sind für Sie die Maßstäbe, mit denen beurteilt werden kann, was die geringste Unzulänglichkeit ist?

Das sind letztlich moralische Probleme. Grundvoraussetzung ist dabei der Glaube an die persönliche Freiheit als den höchsten Wert, dass der Einzelne seine Handlungen nach seinem eigenen Wissen und für seine eigenen Zwecke einrichten kann. Das bedeutet, dass er nur durch allgemeine Regeln in seiner Freiheit beschränkt werden sollte. Gemeint ist also eine Beschränkung der Zwangsgewalt des Staates allein auf die Durchsetzung allgemeiner, für alle gleich geltenden Regeln.

Also eine Politik des „laissez-faire“?

Nein. Denn der Staat könnte innerhalb dieser Grenzen für bestimmte öffentliche Dienstleistungen sorgen einschließlich eines sogenannten Minimalstandards, unter den niemand herabsinken darf. Das sind auch legitime Funktionen des Staates, deren Bedeutung im Laufe der Jahrzehnte klar erkannt worden sind, und sie verbieten, das, was ich vertrete, mit dem alten Schimpfwort „laissez-faire“ zu bezeichnen. Das alles heißt allerdings auch, dass es keinen Versuch des Ausgleichs der Einkommen geben kann. Denn man kann Menschen, die sehr verschieden sind, nur dadurch in die gleiche materielle Situation versetzen, indem man sie ungleich behandelt. Wir müssen nun einmal akzeptieren, dass die Menschen unvermeidlich verschieden sind. Das könnte der Staat nur ausgleichen, indem er sie verschieden behandelt. Und das halte ich für ein viel größeres Übel als gleiche Behandlung mit einem Ergebnis, das für die verschiedenen Menschen ungleich ist. Es gibt also nur die Wahl, persönliche Freiheit und Ungleichheit oder Gleichheit und persönliche Unfreiheit.

Die Startchancen sind aber schon wegen der ungleichen sozialen Herkunft verschieden.

Das stimmt selbst für das Elternhaus nicht ganz. Die Unterschiede sind doch auch vorhanden, weil die Menschen verschieden intelligent sind. Selbst Eltern mit gleichen Einkommen geben, weil sie verschiedene Dinge verschieden schätzen, ihren Kindern ganz unterschiedliche Erziehungen. Solange wir daran glauben, dass für die Erhaltung unserer Zivilisation die Weitergabe von Anschauung und Moral durch die Familie absolut wesentlich ist, werden wir die ungleichen Startchancen nie verhindern.

Ist das Resignation?

Je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass alle Probleme der Wirtschaftspolitik Probleme der Moral sind. Es sind Fragen, welche moralische Anschauungen die Erhaltung unserer Kultur fördern oder zumindest möglich machen. Einerseits bestimmen unsere moralischen Anschauungen, welche Institutionen, also welche Einrichtungen, wir schaffen. Andererseits beeinflussen die Einrichtungen dann wieder die moralischen Anschauungen.

Dabei ist die Moral, die die Schaffung der Institutionen bestimmt, und die Moral, die dann diese Institutionen schaffen, vielfach nicht dieselbe. So halten wir es für ungerecht, das Individuum allein für sein Schicksal verantwortlich zu machen. Wir haben daher Institutionen geschaffen, die das Individuum in weitem Maß von der Verantwortung entlasten. Diese Entlastung von der Verantwortung schafft aber eine ganz neue Moral. Der Einzelne glaubt jetzt, einen Anspruch an die Gesellschaft zu haben. Wir haben also diese merkwürdige Wechselwirkung Moral – Institution – Moral. Ich habe mehr und mehr den Verdacht, dass sich der Aufstieg und Verfall von Kulturen durch diese Wechselwirkung in weitem Maße erklären lässt.

Das wichtigste ordnungspolitische Problem heißt heute: Wer entscheidet über die Verwendung der knappen Güter? Welche Lösung sehen Sie?

Es gibt drei Methoden, mit denen die Menschen versuchen, dieses Problem zu lösen. Die erste Methode ist der Markt. Sie haben ihn möglich gemacht durch ein System des Privatrechts, des Eigentumsrechts und der Verträge. Die zweite Möglichkeit ist die irrige Vorstellung, dass wir den Markt ersetzen können, indem eine Zentralbehörde alles Wissen verarbeitet und dann dem Einzelnen sagt, was er tun soll. Das ist zwar wohlmeinend gedacht, aber technisch unmöglich. Schließlich gibt es eine dritte Methode, die allgemein anerkannt ist, nämlich die kooperative syndikalistische Methode, in der Gruppen organisiert sind, um die Funktion des Marktes zu okkupieren.

Ich denke an die Gewerkschaften und alle anderen organisierten Gruppen, die ja keinen anderen Lebenszweck haben, als den Mechanismus des Marktes zu verhindern. Das heißt meistens, auf Kosten anderer sich selbst vor der Notwendigkeit der Anpassung zu schützen und, um es extrem auszudrücken, sich selbst ein größeres Einkommen auf Kosten des Gesamteinkommens zu sichern. Tatsächlich werden wir beherrscht von einer Koalition der kooperativ-syndikalistischen Gewerkschaften mit zentralistischen Sozialisten, und diese beiden zusammen werden – ich spreche allerdings mehr von England als von Deutschland – die Wirtschaft zugrunde richten.  

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