Nachruf auf Helmut Kohl Der Kanzler mit Sinn für historische Größe

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Der Unbeirrbare

Doch die Unbeirrbarkeit Helmut Kohls und seine geschichtlich aufgeladene Politik haben ihren Preis. Der Weg zur deutschen Einheit und zur Verankerung des neuen deutschen Staates im westlichen Institutionengefüge, der Weg in den Euro und zur Osterweiterung der Europäischen Union ist mit deutschen Milliarden gepflastert. Helmut Kohl kauft seine politischen Erfolge ein, auch das gehört zur Wahrheit, und hinter der Kulisse sehr demonstrativ gepflegter politischer Freundschaften geht es oft zu wie auf einem orientalischen Basar.

Europa finanziert, USA beruhigt

Speziell die europäischen Staatschefs lassen sich die obsessive Machtvergessenheit Kohls, seinen postheroischen Internationalismus und seinen ostentativen Willen zur deutschen Selbstbeschränkung reich vergüten. „Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld“ - davon ist Helmut Kohl, der Anti-Bismarck, überzeugt - und seine Amtskollegen in Paris und London wissen das auszunutzen. Margaret Thatcher braucht das Projekt Europa nur in Frage zu stellen, schon gewährt Kohl ihr den „Britenrabatt“ (1983). Frankreich braucht nur ein wenig zu stöhnen über teure Agrarreformen - schon ist Kohl bereit, die Deutschen zur Kasse zu bitten (1984). Auf dem Höhepunkt seiner Kanzlerschaft, 1990, finanziert die Bundesrepublik fast 70 Prozent der EU-Nettotransfers.

Mit der Einheit nimmt Helmut Kohls „Bimbes-Politik“ beinah’ obszöne Züge an. 18 Milliarden Mark lässt er 1990 für die USA und die Frontstaaten springen, um Deutschland eine militärische Beteiligung am ersten Golfkrieg zu ersparen und die Amerikaner bei Laune zu halten während des Vereinigungsprozesses - mehr als Washington erbeten hat. Mehr als 100 Milliarden Mark überweist Kohl bis 1996 in die Sowjetunion, die osteuropäischen Länder und die GUS-Staaten, sei es für den Abzug der russischen Streitkräfte, sei es in Form von Wirtschaftshilfen, Kreditgarantien, Hermes-Bürgschaften, Investitionszuschüssen. Noch mehr Geld fließt als direkte Aufbauhilfe in die neuen Bundesländer; hinzu kommen die Kosten für die Währungsumstellung, Sozialtransfers, die Beseitigung von Altlasten.

Kohl war ein "Glücksfall für uns Deutsche"
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Nachricht vom Tod ihres Vorgängers während einer Reise nach Rom erreicht. Angela Merkel würdigte Ex-Kanzler Helmut Kohl als großen Europäer und Kanzler der Einheit. Kohl war ein "Glücksfall für uns Deutsche", sagte sie am Abend in Rom.Die Rede von Angela Merkel können Sie hier im Wortlaut nachlesen. Quelle: dpa
Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) würdigte den gestorbenen Altkanzler als großen Staatsmann. „Er war ein großer Staatsmann, ein großer deutscher Politiker und vor allem ein großer Europäer, der sehr viel dafür getan hat, dass nicht nur die Deutsche Einheit gekommen ist, sondern auch dass Europa zusammengewachsen ist“, teilte Gabriel am Freitagabend mit. „Das ist sein großes Vermächtnis. So wird er uns in Erinnerung bleiben. Wir sind in diesen Minuten in Gedanken bei seiner Familie und seinen Kindern. Es ist ein wirklich großer Deutscher gestorben.“ Quelle: REUTERS
„Ich habe seine Weisheit bewundert und seine Fähigkeit, fundierte, zukunftsweisende Entscheidungen auch in schwierigsten Situationen zu treffen.“(Der russische Präsident Wladimir Putin) Quelle: dpa
"Helmut Kohl war ein großer Europäer und ein sehr guter Freund", teilte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Freitagabend mit. "Ohne Helmut Kohl gäbe es den Euro nicht." Weiter sagte er: "Nur drei Menschen, Jean Monnet, Jacques Delors und Helmut Kohl haben für ihre Verdienste für die europäische Zusammenarbeit die Ehrenbürgerschaft Europas erhalten." Das mache den Verlust umso größer – politisch wie menschlich. "In Gedenken an Helmut Kohl habe ich deshalb die Europaflaggen vor den europäischen Institutionen auf Halbmast setzen lassen." Quelle: REUTERS
„Helmut Kohl hat historische Weichen für Deutschland und Europa gestellt und sich Verdienste erworben, die Bestand haben und nicht vergessen werden.“(SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz) Quelle: REUTERS
„Meister des vereinigten Deutschlands und der deutsch-französischen Freundschaft: Mit Helmut Kohl verlieren wir einen sehr großen Europäer.“ (Frankreichs Präsident Emmanuel Macron auf Twitter ) Quelle: REUTERS
„Helmut Kohl war ein Ausnahmepolitiker und ein Glücksfall für die deutsche Geschichte.“(Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier) Quelle: dpa

Geld spielte kaum eine Rolle

Kohl ist damals wie im Rausch. Plötzlich ist es, als fügten sich alle Mosaiksteine seiner Außenpolitik zu einem politischen Meisterwerk, als sei all’ sein Wirken zwangsläufig auf diesen welthistorischen Moment hinaus gelaufen: auf das denkbar beste Ende eines fürchterlich gewaltsamen 20. Jahrhunderts. Kohl spürt den „Rockzipfel der Geschichte“, fühlt sich wie ein Werkzeug von Hegels Weltgeist, der alles zum Besten ordnet. Er will „blühende Landschaften“ herbei zaubern, Deutschland mit Polen, Tschechien, Ungarn und Europa mit sich selbst versöhnen - und er wischt mit der Nonchalance eines Traumwandlers die Bedenken derer beiseite, die er im göttlichen Moment glückender Geschichte nur für Knauser und Knicker, für politische Kleinkrämer und ökonomische Erbsenzähler halten kann. Geld? Was für eine Profanität: „Zur Not drucken wir halt ein bisschen mehr.“

Kein Wunder, dass Kohl es auch mit der Stabilität der D-Mark nicht so genau nimmt. Nach der geglückten deutschen Einheit muss es jetzt auch schnell vorwärts gehen mit den „Vereinigten Staaten von Europa“. Die politischen Lokomotiven in diesem Prozess sollen eine zügige Osterweiterung der EU und eine gemeinsame Währung sein. In Frankreich, das sich gerade von einer Franc-Krise erholt hat, kann man sich 1988 nicht einmal im Traum vorstellen, dass Deutschland auf die D-Mark verzichtet: „Die Macht Deutschlands“, weiß Mitterrand, „beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe.“

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