Es scheint jetzt ganz schnell zu gehen. Der Präsident und auch die Ministerpräsidentin Finnlands sind für den „unverzüglichen" Nato-Beitritt ihres Landes. Am Sonntag könnte bereits der schriftliche Antrag folgen. Stimmen die derzeit 30 Mitglieder zu, hat das Verteidigungsbündnis einen Partner mehr. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte zuletzt mehrfach klargemacht: Kein Problem.
Es sind Schritte, die durch den Krieg Russlands plötzlich in einer ungeahnten Geschwindigkeit möglich werden. Sie stehen in einer Reihe mit hektisch ansteigenden Verteidigungsausgaben westlicher Staaten – der sogenannten „Zeitenwende“ – und Waffenlieferungen an die Ukraine.
Warum aber ging das nicht früher? Die WirtschaftsWoche sprach mit dem CDU-Verteidigungsexperten Roderich Kiesewetter über den ausgebliebenen Nato-Beitritt der Ukraine, über jahrelange Fehler bei der Bundeswehr und über die Schuldfrage.
WirtschaftsWoche: Herr Kiesewetter, Sie waren gerade mit Friedrich Merz in der Ukraine und haben Präsident Selenskyj getroffen. Gab es einen Moment, in dem Sie gedacht haben: Mist, hätten wir die Bedrohung durch Russland doch bloß früher ernst genommen?
Roderich Kiesewetter: Nein, ich warne wie andere Sicherheitspolitiker schon seit Jahren vor einem solchen Ereignis und fordere, dass wir unsere Sicherheitspolitik anpassen müssen, dazu gehört eine besser aufgestellte Bundeswehr.
Aber Bundeskanzlerin Angela Merkel samt Kabinett haben diese Warnung ignoriert?
Wir Sicherheitspolitiker wurden durchaus gehört, fanden mit unseren Forderungen aber keine Mehrheit, weder in der Koalition, der eigenen Fraktion noch in der Gesellschaft. Im Nachhinein ist man aber immer schlauer. Ich bin 2009 in den Bundestag gekommen aus einer Bundeswehr, die damals schon in sehr schwierigen Umständen war. Die inhaltliche Debatte fokussierte sich auf den Afghanistan-Einsatz. Allein dort mangelte es schon an der nötigen Ausrüstung. Soldaten lernten Einsatzfahrzeuge etwa erst im Einsatz kennen, weil es beim Training Zuhause nur die älteren Modelle gab.
Ein Problem der Organisation?
Auch ein Problem der fehlenden strategischen Kultur in der Gesellschaft, aber auch der Ministerinnen und Minister. Ich habe in den folgenden Jahren hautnah die Blauäugigkeit eines Verteidigungsministers erlebt, der ohne Rücksprache mit seinem Haus den Sparauflagen der Kanzlerin nachgekommen ist. Da fehlten einmal eben acht Milliarden Euro im Topf, weil sozialer Sicherheit Vorrang gegeben wurde. Munitionsbestände wurden seit 2011 nicht mehr aufgefüllt, es fehlten Gefechtsfahrzeuge. Außerdem plant das Verteidigungsministerium seit der 17. Legislaturperiode mit weitaus weniger Kampfmitteln, etwa Schützenpanzern und Artillerie-Systemen, als es Verbände gibt. Die Bundeswehr muss ihr Material verschieben, wenn es irgendwo gebraucht wird. Das hat zu einer strukturellen Schwäche in der Einsatz- und Verteidigungsfähigkeit geführt.
Schneller schlau: Nato
Der Kurzname Nato steht für
North
Atlantic
Treaty
Organization
– auf Deutsch: Organisation des Nordatlantikvertrags
Die Nato ist eine Allianz von europäischen und nordamerikanischen Ländern. Grundsätzlich heißt es bei der Nato, eine Nato-Mitgliedschaft sei offen für „jeden anderen europäischen Staat, der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrags zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets beizutragen.“
Um Mitglied zu werden, muss man den sogenannten „Membership Action Plan“ der Nato erfüllen. Zu diesem Plan wird man von der Nato eingeladen.
Mit Finnlands Beitritt hat die Nato seit April 2023 insgesamt 31 Mitglieder. Seit 1949 sind Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA dabei. Sie gelten als Gründungsmitglieder. Später traten Griechenland und die Türkei (1952), Deutschland (1955), Spanien (1982), Polen, die tschechische Republik und Ungarn (1999), Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei, Slowenien (2004), Albanien und Kroatien (2009), Montenegro (2017) und Nordmazedonien (2020) bei.
Stand: 30. August 2023
Die Nato und all ihre Mitglieder haben sich dazu verpflichtet, dass ein Angriff gegen eines oder mehrere ihrer Mitglieder einen Angriff gegen alle darstellt. Dies ist das sogenannte Prinzip der kollektiven Selbstverteidigung. Es ist in Artikel 5 des Washingtoner Vertrags festgeschrieben und fand in der Geschichte der Nato erst einmal Anwendung: als Antwort auf die Terroranschläge des 11. Septembers 2001 in den USA.
Laut Angaben der Nato beraten sich die Mitglieder täglich zu Sicherheitsfragen. Demnach kommen hunderte Beamte sowie zivile und militärische Experten jeden Tag zusammen.
Ein Nato-Beschluss ist „der Ausdruck des kollektiven Willens aller Mitgliedsstaaten“, schreibt die Nato fest. Alle Entscheidungen werden konsensbasiert getroffen, also nach Diskussion und Konsultation zwischen den Mitgliedsländern. Bei der Nato gibt es keine Abstimmungen. Ein Beschluss ist immer das Ergebnis von Beratungen, bis eine für alle akzeptable Entscheidung getroffen ist.
Der Nato-Generalsekretär ist der höchste internationale Beamte im Bündnis. Er ist das öffentliche Gesicht der Nato, leitet den Internationalen Stab der Organisation und verantwortet die Steuerung der Beratungen und die Entscheidungsfindung in der Allianz.
Die Nato hat sich dazu verpflichtet, nach friedlichen Lösungen von Konflikten zu suchen. „Doch wenn diplomatische Anstrengungen scheitern, hat sie die militärische Macht, Operationen des Krisenmanagements durchzuführen“, heißt es bei der Nato. Diese müssen den eigenen Auflagen zufolge „im Rahmen der Beistandsklausel im Gründungsvertrag der Nato – Artikel 5 des Washingtoner Vertrags – oder mit einem Mandat der Vereinten Nationen erfolgen, entweder allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Ländern und internationalen Organisationen.“
Bleibt also ein klassisch-ironisches „Danke Merkel“?
Es ist ein Fehler, solche Entwicklungen immer personalisieren zu wollen. Auch wir als Parlament haben es nicht geschafft, Treiber der Veränderung zu werden. Zu sehr haben wir uns auf dem Gedanken ausgeruht, Wandel durch Handel schaffen zu können. Außerdem hat auch das Militär selbst eine Mitverantwortung, weil es diese Entwicklung ohne öffentlichen Widerspruch mitgetragen hat.
Die Bundeswehr kann doch nichts für die schlechte Versorgung durch die Regierung?
Nein, aber ich erwarte von einer militärischen Führung, dass sie nicht immer alles akzeptiert und sich durchwurstelt. Sie muss ungefilterte militärische Ratschläge geben, wenn es um die eigenen Fähigkeiten und externe Bedrohungsszenarien geht. Andererseits sollten militärische Einschätzungen dann auch gehört und politisch umgesetzt werden.
Diese Ratschläge gab es nicht?
Zumindest drangen sie nicht zu den Ministerinnen und Ministern durch. Die Generalinspekteure hätten strukturelle und Planungsfehler deutlicher als solche benennen können. Ich sage nicht, dass sie mit Rücktritt hätten drohen müssen. Aber der GI hat eine gewisse Freiheit zu sagen: Wir laufen in eine ganz schwierige Lage für die Bundeswehr hinein. Wenn hier nicht geholfen wird, dann ist sie bald nicht mehr einsatzfähig. So hat Ursula von der Leyen zwar eine Trendwende angekündigt, aber es fehlte das Geld, stattdessen gab es verkürzte Arbeitszeiten und Arbeitsstau. Da fehlte die Reformbereitschaft aus einem Guss, genauso wie der politische Wille bzw. die Mehrheit insgesamt. Der Inspekteur des Heeres war hier kürzlich mutiger.
Wie hätte dieser Guss Ihrer Meinung nach aussehen müssen?
Die Materialverantwortung gehört in die Hand der Inspekteure, die Beschaffungsprozesse hätten viel früher auf den Stand gebracht werden müssen, auf den sie gerade kommen sollen. Wenn die Streitkräfte einen Panzer bestellen, dürfen nicht immer neue Wünsche die Auslieferung verzögern und verteuern. Es hätte auch etwas gegen überalterte Führungskräfte unternommen und verschachtelte Kommandostrukturen aufgebrochen werden müssen. Das ist nicht passiert. Bis heute ist die Bundeswehrführung vor allem durch Koordination von Ämtern und Hauptquartieren gebunden, auch darunter leiden Landes- und Bündnisverteidigung.