Neue Deutsche Welle Vom Filmproduzenten zum Wirtschaftswissenschaftler

Früher arbeitete Viktor Winschel als Filmproduzent. Heute erforscht der Wirtschaftswissenschaftler von der Uni Mannheim die mathematische Sprache der Ökonomik.

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Mathematiker Viktor Winschel:

Als Student hat Viktor Winschel nur selten einen Hörsaal von innen gesehen. Wichtiger als Makroökonomie und Finanzwissenschaft waren ihm damals Drehtermine – der Student hatte mit Freunden eine Produktionsfirma für Musikclips und Werbefilme gegründet, die viel Zeit in Anspruch nahm. Den Vorlesungsstoff holte er kurz vor den Klausuren irgendwie nach.

Seiner wissenschaftlichen Karriere hat diese eigenwillige Arbeitsweise keinen Abbruch getan. Und heute, als Dozent an der Uni Mannheim, steht er häufiger im Hörsaal als früher. Dem Mainstream der Forschung will sich der 39 Jahre alte Volkswirt trotzdem nicht anpassen. In seiner Fakultät gilt er nicht nur wegen der langen lockigen Haare als Exot, auch mit seinen Themen ist er Einzelkämpfer. „Bisher stochere ich allein vor mich hin.“ Das sei schon früher so gewesen. „Ich war immer dazwischen, eine Klasse zu überspringen oder von der Schule geschmissen zu werden.“

"Heute wird gelabert"

Manchmal betritt Winschel den Hörsaal und begrüßt die Studenten mit den Worten: „Heute wird gelabert.“ Dann schreibt er die Tafel mit griechischen Buchstaben voll, zieht Pfeile, setzt Gleichheitszeichen – und erzählt über seine Forschung. Er beschäftigt sich mit der formalen Sprache der Wirtschaftswissenschaften. Dabei geht es um die mathematische Form, in der Ökonomen wissenschaftliche Probleme modellieren.

Welche Erkenntnisse man aus einem Modell ziehen könne, hänge von der Darstellungsform ab, sagt Winschel. Er vergleicht das gerne mit römischen Zahlen: Man könne diese zwar wie arabische Zahlen multiplizieren, doch der zusätzliche Aufwand mache es schwer, Strukturen zu erkennen. Die Differenzialgleichungen, als gängiges Werkzeug der Ökonomen, seien für die Mechanik konstruiert. Newton habe sie erfunden, um fallende Äpfel oder die Umlaufbahn von Planeten zu modellieren. Für ökonomische Probleme sei das oft nicht adäquat, weil es hierbei um Menschen ginge, die im Gegensatz zu Äpfeln oder Planeten eigene Intentionen hätten.

Für seine Forschung hat sich Winschel in die Systembiologie, künstliche Intelligenz und Philosophie eingelesen. Mit 13 Jahren programmierte er eigene Computerspiele. Neue Erkenntnisse verspricht er sich vor allem von der Kategorietheorie, die sich mit der Übersetzung zwischen verschiedenen Teilgebieten der Mathematik befasst.

Von Tadschikistan über Estland nach Deutschland

Fachlich gilt Winschel als brillant. Ein Aufsatz von ihm über die Schätzung hochdimensionaler Makro-Modelle erscheint bald in der renommierten Fachzeitschrift „Econometrica“. Als er die Arbeit vor einigen Jahren auf einem Seminar in Chicago präsentierte, hörte auch Nobelpreisträger James Heckman zu. „In einer Stretchlimousine haben sie mich vom Flughafen abgeholt“, erinnert sich Winschel. Die Jury hatte erst große Schwierigkeiten sein Modell zu bewerten. Am Ende gewann er den Preis für die beste Arbeit. „Da habe ich es den ganzen Harvard- und Yale-Jungs mal gezeigt“, sagt Winschel.

Ob seine Jugend in der Sowjetunion ihn geprägt hat? Geboren wurde Winschel in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe. Als er fünf Jahre alt war, zog seine Familie nach Estland. Dort ging er ein Jahr zur Schule. An den Drill in der Sowjetunion mit Schuluniformen und Liedersingen erinnert er sich noch genau. „Wenn wir etwas gut gemacht haben, gab es vom Parteifunktionär einen Stempel mit rotem Stern.“

Die Umstellung war groß, als er mit seiner Familie 1977 nach Deutschland kam. Am ersten Schultag tanzten einige seiner neuen Mitschüler auf den Tischen. Als Spätheimkehrer kam Winschel mit seiner Familie in ein Auffanglager bei Mainz. Von dort ging es über Pforzheim, Böblingen und Sindelfingen nach Stuttgart. Immer wieder musste er die Schule wechseln, weil er mit seiner Familie in eine andere Stadt zog. Zu Hause war Winschel nie irgendwo, sicher war nur der nächste Umzug. Das habe ihn geprägt, ständig taten sich neue Welten für den Teenager auf.

Sesshaft geworden ist er erst in Mannheim. Hier hat er sein Diplom gemacht und promoviert. Ein erneuter Wechsel steht für ihn derzeit nicht an. Über seinen Job an der Uni dürfe er nicht mosern, sagt Winschel. „Diese Freiheit, das ist schon cool.“ Das Problem für ihn sei aber, dass er seine hochkomplexe Forschung auf Dauer nicht alleine machen könne. Auf seinem Schreibtisch liege ein riesiger Papierstapel mit Ideen, sagt Winschel. „Und ich brauche irgendeine Form von Feedback.“

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