Neue Regierung Die Ampel muss liefern – und sie wird liefern

SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP verkünden im hub27 auf dem Messegelände Berlin die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen Quelle: imago images

Die kommende Regierung aus SPD, Grünen und FDP ist nicht zu beneiden. Unser Land hat zu viele Defizite zu lange ignoriert – und nun ist auch die Pandemie mit Macht zurück. Trotzdem: Das Fortschrittsversprechen ist kein leeres Wort. 

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Wenn der Umfang einer Vereinbarung und die Wortgirlanden bei ihrer Präsentation ein Gradmesser für Gehalt und Wertigkeit eines Koalitionsvertrages sind, dann steht Deutschland in der Tat am Beginn einer guten Regierungszeit unter Führung von SPD, Grünen und FDP. 

Hermann Hesse wurde als Zeuge zitiert („Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“), der künftige Bundeskanzler Olaf Scholz erinnerte an die Aufstellung der ersten Ampel in Deutschland, 1924 auf dem Potsdamer Platz in Berlin. Zudem ist das Werk mit 177 Seiten deutlich umfangreicher als der Groko-Vertrag 2013 (134 Seiten) und sogar als das Abkommen 2018 (175 Seiten).

Dabei hätte es der bunten Illumination gar nicht bedurft, denn der in Rekordzeit ausgehandelte Vertrag ist an sich ein erstaunliches Dokument. Pessimisten würden es als Beleg werten, dass selbst erklärte Gegner unter dem Druck der Kraft des Faktischen zusammenfinden können. Für Optimisten aber, und zu dieser Spezies gehöre ich, ist es ein Werk, dass ein großes Potential in sich birgt, Chancen, unser Land einen großen Schritt nach vorn zu bringen.

Besser beraten, um besser zu regieren

Schon das Zustandekommen ist bemerkenswert: Ohne mediales Getöse, gegenseitige Vorwürfe, Drohungen und nächtliche Kräche – welch ein Unterschied zu 2017/18! Man kann tatsächlich den Eindruck gewinnen, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck und Christian Lindner hätten den Ernst der Lage verstanden und die richtigen Schlüsse gezogen. Gemeinsam scheint ihnen klar zu sein, dass die neue Regierung keine Schonzeit bekommen wird. Die früher traditionellen 100 Tage sind im Zeitalter rasanter Entwicklungen und medialer Begleitung in Echtzeit ein Relikt vergangener Zeiten.

Dieser Erkenntnis folgt der Text. Mag auch der Titel („Mehr Fortschritt wagen“) als allzu plakative Paraphrase des Aufbruchs vom Herbst 1969 daherkommen – die Zustandsbeschreibung ist weitgehend treffend und die von den Unterhändlern formulierte Schlussfolgerung nichts weniger als eine Neudefinition des Begriffs Fortschritt. Er verspricht, anders als in früheren Zeiten, nicht schnelleres Wachstum, steigende Kurse, mehr Wohlstand für alle, den traditionellen sozialen und wirtschaftlichen Komparativ. Ganz im Gegenteil! Der Koalitionsvertrag benennt Schwächen, Defizite, Defekte und legt schonungslos offen, welch gigantischen Nachhol- und Aufholbedarf Deutschland hat.

Nun haben auch frühere Regierungen zum Beispiel das hohe Lied der Digitalisierung gesungen. Aber passiert ist – nichts. Oder zumindest viel zu wenig. Die Landkarte der Mobilfunkabdeckung gleicht noch immer einer Wolldecke mit Mottenfraß, Behörden benötigen noch immer per Hand ausgefüllte Formulare und in Kliniken ist der mit buntem Filzstift ausgefüllte Dienstplan an der Wand noch immer das weit verbreitete Medium der Wahl. Das kann und darf nicht so bleiben. Noch einmal vier Jahre Stillstand würden das Land endgültig vom Fortschrittszug abhängen.

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der Energiepolitik. Wer über rasanten Anstieg der Strompreise seinen Glauben an die Politik verliert, aber gleichzeitig den Ausbau der Stromnetze verhindert oder den Widerstand gegen den Bau von Windkraftanlagen zur Pflicht des Wutbürgers erklärt, der hat nicht verstanden, worum es geht. Olaf Scholz und seine Mitstreiter aus Grünen und FDP werden den Menschen im Land genau dies erklären müssen.

Olaf Scholz ist keine zweite Merkel!

Genau daran liegt die innere Wahrheit des dritten Wortes der Überschrift dieses Vertrages: Ja, es ist ein Wagnis! Denn hinter diesem Fortschrittsbegriff verbirgt sich die zwingende Notwendigkeit der Transformation in vielen Lebensbereichen, des Umbaus, der Unruhe. Die kommenden vier Jahre werden, dazu bedarf es keiner prophetischen Gabe, unruhige Zeiten. Und mit Olaf Scholz steht künftig ein Politiker an der Spitze der Regierung, der zwar auf den ersten Blick gut zur sedierenden Raute der 16 Merkel-Jahre passt, der aber erkannt hat, dass sich sehr viel ändern muss, damit manches so bleiben kann, wie es ist.

Die Bürger werden sehr schnell erkennen können, ob das, was die Koalitionäre auf 177 Seiten zusammengetragen haben, mehr ist als eine Standortbestimmung in einer wild rotierenden Welt. Sie werden registrieren, ob die ambitionierten Ankündigungen von Strategien im Kampf gegen Wohnungsnot und steigende Mieten funktionieren oder nicht. Der Vertrag weist auch hier die richtige Richtung: Bauen, was das Zeug hält, mit vereinfachten und möglichst standardisierten Verfahren. Verwaltungen und Prozesse müssen schneller werden, und auch das geht nur durch eine massive Digitalisierung.



Raschen Handlungsbedarf zeigt auch der Blick über Grenzen. Europa ist, bei aller gewollter Diversität und bunter Vielfalt in mehrfacher Hinsicht auf einer schiefen Ebene: Politisch durch einen tiefgreifenden Konflikt zwischen dem „alten Westen“ und Staaten des ehemaligen Ostblocks, in denen Rechtstaatlichkeit und Toleranz noch eher junge Tugenden sind. Und wirtschaftlich, weil der Schraubstock zwischen den Interessen der USA und Chinas die Handlungsfähigkeit der europäischen Ökonomien immer weiter einschränkt. Wenn wir uns weiterhin weigern, bestimmte Kernkompetenzen beispielsweise im IT-Bereich in Europa zu bündeln, um sie als eigenständiger Player zu etablieren, dann ist es schon bald zu spät. Auch hier nähern sich die Zeiger der Uhr bedrohlich der 12-Uhr-Marke.

Keine Allianzen innerhalb der Ampel-Allianz, bitte!

Alles in allem sind die neuen Bündnispartner angesichts dieses Handlungsdrucks nicht zu beneiden. Diejenigen, die in der künftigen Regierung Verantwortung tragen werden, am wenigsten. Gleichwohl besteht die berechtigte Hoffnung, dass Olaf Scholz, Christian Lindner und die Grünen-Spitze ihrer Verantwortung gerecht werden und der Versuchung widerstehen, auf der Suche nach dem eigenen Erfolg Zweierallianzen innerhalb der Parteien-Troika zu bilden.

Die erste und allerdringlichste Aufgabe: der Kampf gegen die erneut explodierende Pandemie. Hier mag sich Olaf Scholz an einen seiner Amtsvorgänger als Bürgermeister der Hansestadt Hamburg erinnern, der in der Krise über sich hinauswuchs und dem am Ende zahllose Menschen ihr Leben verdanken konnten. Um die Coronakrise zu überbestehen, bedarf es längst keiner Konferenzen und Debatten mehr, sondern eines kompromisslosen politischen Handelns.

Die erste existentielle Bewährungsprobe liegt also vor der Ampelkoalition noch ehe sie formal die Regierung übernommen hat. Besteht sie die, kann sie in der Tat zu einem Fortschrittsmotor für Deutschland werden.

Mehr zum Thema: Mindestlohn und Superabschreibungen, Industriepolitik und Windkraftoffensiven, kreatives Haushalten: Die künftige Ampelkoalition startet mit vielen Ideen – und lässt noch einige Details offen. Die WiWo-Analyse.

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