Neue Regierung startet mit Milliarden-Spielraum Der Wunschzettel der Ökonomen

Seit der Wiedervereinigung konnte keine Bundesregierung mit so gut gefüllten Staatskassen starten wie das noch zu bildende Kabinett Merkel IV. Ökonomen schreiben Prioritätenlisten für die Koalitionsverhandlungen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Die neue Regierung wird einige Spielräume haben. Wie sie genutzt werden, ist offen. Quelle: dpa

Berlin Die Aufgaben, vor denen die neue Bundesregierung steht, sind aus Sicht von Ökonomen groß. Umso besser, dass die Jamaika-Koalition, so sie zustande kommt, mit vollen Staatskassen starten kann. Auf 33 Milliarden Euro beziffert ifo-Präsident Clemens Fuest den Spielraum, den die Regierung für Steuersenkungen ab 2019 nutzen kann. Dabei geht Fuest allerdings davon aus, dass für alle neuen Ausgaben, für die sich CDU, CSU, FDP und Grüne in den Koalitionsverhandlungen entscheiden werden, bisherige Ausgaben gestrichen werden. Mehr Geld für den Glasfaserausbau zum Beispiel könnte dann bedeuten: kein Geld für eine Ortsumgehung auf dem Lande.

„Wir leben in Zeiten voller Kassen und niemand redet über Kürzungen von Ausgaben“, so Fuest. Die neue Regierung sollte sich kritisch anschauen, wo im Bundeshaushalt gespart werden könne. Der Ökonom setzt dabei auf die FDP und die Grünen, weil die beiden kleinen möglichen Jamaika-Koalitionspartner bei der Rente auf Generationengerechtigkeit pochten. Sie dürften weniger als eine große Koalition aus Union und SPD bereit sein, „Geld an die Rentner heute auf Kosten der Beitragszahler morgen auszuschütten“, sagte Fuest.

Allerdings hat noch keine neue Regierung neue Ausgaben komplett durch Streichungen der alten finanziert; genauso wie seit der Wiedervereinigung noch keine Regierung mit so viel wirtschaftlichem Rückenwind starten konnte: Der lange Aufschwung, der 2010 begann, wird sich nach der neuen Regierungsprognose fortsetzen und sogar noch beschleunigen: Mit 2,0 Prozent Zunahme des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr und 1,9 Prozent 2018 rechnet die Regierung nun offiziell. Noch im Frühjahr hatte sie nur 1,5 Prozent in diesem und 1,6 Prozent 2018 erwartet. Aber weil sich die Euro-Zone ebenfalls wirtschaftlich erholt und kräftig wächst, kann die deutsche Industrie mehr exportieren und muss dafür selbst mehr in ihre Produktionsanlagen investieren. Mit einem Wachstum von 2,0 Prozent rechnen auch die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute, der IWF und die OECD.

Die gute Konjunktur lässt auch die Arbeitslosigkeit weiter schwinden. Trotz der Flüchtlinge soll sie unter 5,5 Prozent sinken. In den zurückliegenden vier Jahren sei die Zahl der Erwerbstätigen insgesamt um 2,5 Millionen gestiegen, sagte Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD), als sie am Mittwoch die neue Prognose vorstellte. Um mehr als eine Million soll die Zahl der Erwerbstätigen bis 2018 steigen, auf dann 44,8 Millionen – ein neuer Rekordwert. „Der deutschen Wirtschaft geht es gut“, sagte Zypries.

Die Steuern will Fuest vor allem bei der Einkommensteuer gesenkt sehen. Zusätzlich sollte die neue Bundesregierung eine Unternehmenssteuerreform angehen, sagte der Ökonom: Nach der letzten Reform, 2008, sei Deutschland zwar wettbewerbsfähig geworden, seither hätten aber andere Industrieländer die Firmensteuern weiter gesenkt. Großbritannien und die USA stünden vor weiteren Entlastungen für Unternehmen. „Deutschland muss sich diesem Wettbewerb stellen“, sagte Fuest. Er schlug vor, den gemeinsamen Steuersatz aus Körperschaftsteuer (15 Prozent) plus Gewerbesteuer (durchschnittlich 14 Prozent) auf 25 Prozent zu senken.

Steuersenkungen unter Ökonomen umstritten


Ob die Regierung vorrangig Steuern senken sollte, ist allerdings unter Ökonomen umstritten. DIW-Präsident Marcel Fratzscher würde die finanziellen Spielräume lieber für Investitionen in Infrastruktur und Bildung nutzen. „Es ist an der Zeit, einen wirtschaftlichen Richtungswechsel einzuläuten“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt. Am wichtigsten sei die erfolgreiche Umsetzung der drei zentralen Transformationsprozesse Digitalisierung, Elektromobilität und Energiewende, sagte er. Die deutsche Wirtschaft sei in vielen wichtigen Zukunftssektoren nicht wettbewerbsfähig, etwa in den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). „Dazu braucht sie auch mehr Unterstützung der Politik durch weniger Bürokratie, eine klügere Regulierung, die mehr Anreize für Innovation gibt und Mut macht, wirtschaftliche Risiken einzugehen“, so Fratzscher.

Dass die Digitalisierung weit oben auf der Agenda des noch zu bildenden Kabinetts Merkel IV stehen muss, sagte auch Fuest. Er schlug eine Digitalisierungskommission nach dem Vorbild der Deregulierungskommission der 1990er-Jahre vor. „Ich bin sonst ja nicht für Kommissionen, hier wäre es aber sinnvoll, eine zu bilden“, sagte er. Denn die Digitalisierung betreffe alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Dafür müssten kluge und gesellschaftlich breit akzeptierte Lösungen gefunden werden. „Auch den flächendeckenden Glasfaserausbau kann man infrage stellen“, sagte Fuest. „Ich bin dafür, Breitband nach Bedarf auszubauen“, sagte er. Sonst werde es zu teuer.

Die Digitalwirtschaft nennen auch die Wirtschaftsweisen Christoph Schmidt und Lars Feld als Priorität für Jamaika. Mehr Chancen für Unternehmen durch den Abbau von bürokratischen Hemmnissen fordern sie. Fuest wiederum sprach sich dafür aus, neue Geschäftsmodelle wie Airbnb und Uber positiv zu sehen und nicht mit Verboten gegen sie vorzugehen.

Einig sind sich die Ökonomen darin, dass die neue Regierung mehr in Bildung investieren muss. „Mehr Chancengleichheit“, verlangten Fratzscher und Fuest: Es dürfe nicht sein, dass die Herkunft noch immer über den Bildungserfolg von Kindern entscheide, so Fuest. Fratzscher will hier allerdings mehr Geld einsetzen als Fuest: „Die neue Bundesregierung sollte die hohen fiskalischen Überschüsse für mehr Chancengleichheit und Zukunftsinvestitionen, wie in Bildung oder Innovation, nutzen“, sagte er.

Als weitere große Priorität für die Bundesregierung nennen die genannten Ökonomen Reformen für Europa. „Deutschland wird global seine wirtschaftlichen Interessen ohne ein geeintes, starkes Europa nie verteidigen können“, sagte Fratzscher. „Deshalb ist es so dringend, dass die neue Bundesregierung zusammen mit Frankreich grundlegende Reformen Europas auf den Weg bringt und Europa wieder stärker eint.“

Auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron soll die neue Regierung auch nach Auffassung von Fuest zugehen. „Pauschale Zurückweisungen seiner Vorschläge halte ich nicht für klug“, sagte Fuest. Auch beim Euro-Zonen-Budget sollte man, selbst wenn man es kritisch sieht, zunächst einmal fragen: Für was soll es eingesetzt werden? Wäre es möglicherweise sinnvoller, den EU-Haushalt neu zu gestalten? Fuest sprach sich dafür aus, zum Beispiel mehr Geld auf EU-Ebene für die Rüstungsbeschaffung einzusetzen; die Mitgliedstaaten könnten dann national Mittel sparen, weil die Beschaffung effizienter werde. Mehrheitlich halten es die Ökonomen bei Europa mehr mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der mehr Haushaltskontrolle zum Abschied aus dem Amt verlangte, als mit Macron, der mehr Geld von reichen zu armen Ländern umverteilen will.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%