Neue Regierung startet mit Milliarden-Spielraum Der Wunschzettel der Ökonomen

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Steuersenkungen unter Ökonomen umstritten


Ob die Regierung vorrangig Steuern senken sollte, ist allerdings unter Ökonomen umstritten. DIW-Präsident Marcel Fratzscher würde die finanziellen Spielräume lieber für Investitionen in Infrastruktur und Bildung nutzen. „Es ist an der Zeit, einen wirtschaftlichen Richtungswechsel einzuläuten“, sagte Fratzscher dem Handelsblatt. Am wichtigsten sei die erfolgreiche Umsetzung der drei zentralen Transformationsprozesse Digitalisierung, Elektromobilität und Energiewende, sagte er. Die deutsche Wirtschaft sei in vielen wichtigen Zukunftssektoren nicht wettbewerbsfähig, etwa in den Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT). „Dazu braucht sie auch mehr Unterstützung der Politik durch weniger Bürokratie, eine klügere Regulierung, die mehr Anreize für Innovation gibt und Mut macht, wirtschaftliche Risiken einzugehen“, so Fratzscher.

Dass die Digitalisierung weit oben auf der Agenda des noch zu bildenden Kabinetts Merkel IV stehen muss, sagte auch Fuest. Er schlug eine Digitalisierungskommission nach dem Vorbild der Deregulierungskommission der 1990er-Jahre vor. „Ich bin sonst ja nicht für Kommissionen, hier wäre es aber sinnvoll, eine zu bilden“, sagte er. Denn die Digitalisierung betreffe alle Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Dafür müssten kluge und gesellschaftlich breit akzeptierte Lösungen gefunden werden. „Auch den flächendeckenden Glasfaserausbau kann man infrage stellen“, sagte Fuest. „Ich bin dafür, Breitband nach Bedarf auszubauen“, sagte er. Sonst werde es zu teuer.

Die Digitalwirtschaft nennen auch die Wirtschaftsweisen Christoph Schmidt und Lars Feld als Priorität für Jamaika. Mehr Chancen für Unternehmen durch den Abbau von bürokratischen Hemmnissen fordern sie. Fuest wiederum sprach sich dafür aus, neue Geschäftsmodelle wie Airbnb und Uber positiv zu sehen und nicht mit Verboten gegen sie vorzugehen.

Einig sind sich die Ökonomen darin, dass die neue Regierung mehr in Bildung investieren muss. „Mehr Chancengleichheit“, verlangten Fratzscher und Fuest: Es dürfe nicht sein, dass die Herkunft noch immer über den Bildungserfolg von Kindern entscheide, so Fuest. Fratzscher will hier allerdings mehr Geld einsetzen als Fuest: „Die neue Bundesregierung sollte die hohen fiskalischen Überschüsse für mehr Chancengleichheit und Zukunftsinvestitionen, wie in Bildung oder Innovation, nutzen“, sagte er.

Als weitere große Priorität für die Bundesregierung nennen die genannten Ökonomen Reformen für Europa. „Deutschland wird global seine wirtschaftlichen Interessen ohne ein geeintes, starkes Europa nie verteidigen können“, sagte Fratzscher. „Deshalb ist es so dringend, dass die neue Bundesregierung zusammen mit Frankreich grundlegende Reformen Europas auf den Weg bringt und Europa wieder stärker eint.“

Auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron soll die neue Regierung auch nach Auffassung von Fuest zugehen. „Pauschale Zurückweisungen seiner Vorschläge halte ich nicht für klug“, sagte Fuest. Auch beim Euro-Zonen-Budget sollte man, selbst wenn man es kritisch sieht, zunächst einmal fragen: Für was soll es eingesetzt werden? Wäre es möglicherweise sinnvoller, den EU-Haushalt neu zu gestalten? Fuest sprach sich dafür aus, zum Beispiel mehr Geld auf EU-Ebene für die Rüstungsbeschaffung einzusetzen; die Mitgliedstaaten könnten dann national Mittel sparen, weil die Beschaffung effizienter werde. Mehrheitlich halten es die Ökonomen bei Europa mehr mit Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), der mehr Haushaltskontrolle zum Abschied aus dem Amt verlangte, als mit Macron, der mehr Geld von reichen zu armen Ländern umverteilen will.

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