Neue Serie Soziale Marktwirtschaft in der Kritik: Wohlstand nicht für alle

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Blick in die Volkwagen-Fabrik Quelle: AP

„Die Deutschen haben Erhard nicht verstanden“, schreibt der US-Historiker Alfred Mierzejewski in seiner Erhard-Biografie. Noch heute hält sich das Missverständnis, soziale Marktwirtschaft bedeute, dass die Marktkräfte gebremst und sozial dressiert werden müssten, dass es bei der sozialen Marktwirtschaft also um ausufernde Sozialsysteme und mächtige Tarifparteien gehe – und darum, so viel umzuverteilen, dass sich alle gleichermaßen wohlstandsdusselig mit ihrem staatlich glattgehobelten Einkommen fühlen.

In Wahrheit hatte Erhard gänzlich anderes im Sinn. Er befand, dass der Markt selbst soziale Kräfte entwickele. Nicht nur deshalb, weil ein gesunder Markt alle Güter zu vertretbaren Preisen garantiere. Sondern vor allem deshalb, weil nur er Wachstum und damit die materielle Voraussetzung für Sozialpolitik schaffe. „Je freier die Wirtschaft, umso sozialer ist sie auch“, hatte Erhard gesagt. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Wenn Erhard damit heute Wahlkampf machen wollte, hätte Oskar Lafontaine ihn wohl einen verdammten Kasino-Kapitalisten gescholten.

Erhards Idee war es, den Markt mit dem sozialen Ausgleich zu versöhnen. Und dabei stützte er sich auf Arbeiten der ordoliberalen Schule um Alfred Müller-Armack, Walter Eucken und Wilhelm Röpke. Ihnen schien die soziale Marktwirtschaft als „irenische Formel“, die die Deutschen nach dem Krieg mit dem Markt versöhnen sollte. Erhard selbst hatte die Freiheit betont. Aus dem freien Willen jedes Einzelnen leitet er eine Verantwortung zur Solidarität mit den Schwachen ab. Wer unverschuldet nicht selbst für sich sorgen könne, dem müsse die Gemeinschaft helfen. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft habe tiefe anthropologische Wurzeln, sagt Thomas Straubhaar, Direktor des Hamburgischen Welt-Wirtschafts-Institutes (HWWI). Es begreife den Menschen als soziales Wesen, das der Gesellschaft verpflichtet sei.

Aber nicht nur Links-Populisten gefährden heute das Konzept. Von der sozialen Dimension der Marktwirtschaft haben sich heute auch einige Manager symbolträchtig weit entfernt. Die Schlagzeilen der vergangenen Wochen haben mit Anstand nicht mehr viel zu tun. Die Telekom leistet sich einen waschechten Spitzel-Skandal, der auch als Vorlage für einen John-Grisham-Roman taugen würde. Der Lebensmittelkonzern Lidl lässt seine Mitarbeiter bis vor das Firmenklo ausspionieren. Der ehemalige Post-Chef Klaus Zumwinkel hinterzieht Steuern in Millionenhöhe. Die Banken verzocken mal eben Milliarden und rufen dann nach dem Staat. Und kaum ein Manager traut sich noch in eine Talkshow, um darauf hinzuweisen, dass diese Skandale zwar höchst unappetitlich sind, gerade ihre Aufdeckung aber beweist, dass die Selbstheilungskräfte noch funktionieren. Es sei tragisch, sagt der Berliner Ökonom Joachim Schwalbach, „dass sich die große Mehrheit der rechtschaffenen Unternehmen nicht wehrt und ihr ramponiertes Bild in der Öffentlichkeit nicht zurechtrückt“.

Als Vermittler ist auch die Politik ein Komplettausfall. Bis zur vergangenen Woche galt bei Erhards selbsterklärten Erben in der Politik, den Wirtschaftsexperten der Union, die Sprachregelung, es handele sich um bedauernswerte Einzelfälle in den Chefetagen. Seit vergangenem Dienstag ist dieser Kodex Geschichte. Ausgerechnet Unions-Fraktionsgeschäftsführer Norbert Röttgen, der 2006 noch als Hauptgeschäftsführer zum Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) wechseln wollte, fiel als Erster um. Er klagte, die Manager demonstrierten „in einer nicht enden wollenden Kette“, dass sie Recht und Gesetz nicht mehr für maßgeblich hielten. Und selbst Bundespräsident Horst Köhler, um seine Wiederwahl bangend, warnt vor einem „Vertrauensverlust“ der sozialen Marktwirtschaft und den „Monstern“ der Finanzwelt.

Dabei erodiert das Vertrauen in das Wirtschaftssystem gerade in einer Zeit, in der die Wirtschaft boomt wie lange nicht mehr. 1,7 Millionen Stellen hat die Wirtschaft in den vergangenen zwei Jahren geschaffen. Trotzdem breitet sich das schale Gefühl aus, wirtschaftlicher Aufschwung und persönliches Wohlergehen hätten sich entkoppelt. Wenn es meinem Unternehmen gut geht, dann geht es mir gut – dieses kapitalistische Urversprechen scheint nicht mehr aufzugehen.

In Bochum wickeln die letzten Arbeiter in diesen Tagen das Nokia-Werk ab, das seine Produktion längst nach Rumänien verlagert hat – obwohl der Konzern Rekordergebnisse meldet. Wenn aber Unternehmen Rendite erwirtschaften und trotzdem entlassen – kann dieser Markt dann sozial sein?

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