Neues Leben ohne Funkloch „Die Türme stören uns nicht“

Ein Mast mit verschiedenen Antennen von Mobilfunkanbietern. Quelle: dpa

Viele Jahre kämpften die Einwohner von Kleßen-Görne gegen den Absturz in den digitalen Notstand. Jetzt sollen zwei nagelneue Funktürme die Wende bringen – und sogar Touristen anlocken.

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Bürgermeister Paul Egon Zander steht kurz vor der Lösung seines größten Problems. Jahrelang haben die 353 Bewohner der Havelland-Gemeinde Kleßen-Görne darum gekämpft, dass sie nicht mehr abgeschnitten von der Außenwelt in einem riesigem Funkloch leben. In diesem dünn besiedelten Teil Brandenburgs lohnte sich für Mobilfunkbetreiber solche eine Erweiterung ihrer Netze nicht.

Erst nach vielen Protestnoten und Bettelbriefen hatte die Deutsche Telekom ein Einsehen. Im vergangenen Jahr stellte sie am Ortsrand den ersten provisorischen Sendemast auf. „Damit haben wir die ganz fiesen Funklöcher geschlossen“, blickt der im Mai neu gewählte Bürgermeister auf die Initiative seines Vorgängers zurück. Sogar Infrastrukturminister Andreas Scheuer kam vorbei, um sich das Spektakel anzuschauen. Ein neuer Funkturm auf dem Lande – das ist wie die feierliche Einweihung eines neuen Autobahn-Abschnitts.

Jetzt legt die Telekom nochmal nach und stellt zwei doppelt so hohe Funktürme am Rand der beiden Ortsteile Kleßen und Görne auf. Die beiden Ortsteile werden, verspricht die Telekom, jetzt noch besser ausgeleuchtet. Selbst kleinste Funklöcher sollen verschwinden. Von den Bewohnern bekommt sie dafür nur Beifall. „Bei uns gibt es keinen Widerstand und keine Ressentiments gegen Funktürme“, sagt Zander. Anders als viele Gemeinden, in denen Bürgerinitiativen den Bau von Funktürmen blockieren, steht Kleßen-Görne voll hinter dem Bau der Funktürme. Genau dafür hatten sie jahrelang gekämpft. Und ernten jetzt die Früchte für ihren unermüdlichen Einsatz. Auch die Telekom-Konkurrenten Vodafone und Telefónica ziehen jetzt nach, kündigten in der vergangenen Woche den gemeinsam Aufbau eines Funkturms an. Auf der nächsten Gemeinderatssitzung soll der Antrag diskutiert werden. „Ein konkreter Standort wurde bereits gefunden“, berichtet Zander.

Die Gemeinde wollte nicht länger digitales Notstandsgebiet sein. Ganz schlimm seien die schweren Unfälle auf der kurvenreiche Landstraße zwischen den beiden fünf Kilometer voneinander entfernten Ortsteilen gewesen, erzählt der ehrenamtlich tätige Bürgermeister. „Zeugen wollten per Notruf Hilfe holen - und mussten zwei Kilometer fahren, um ein Netz zu finden.“ Wertvolle Zeit ging verloren, bis Notarzt und Einsatzkräfte schließlich eintrafen.

Kleßen-Görne im Landkreis Havelland gehört zu den strukturschwachen Regionen Brandenburgs. Industrie- und Handwerksbetriebe gibt es hier schon lange nicht mehr. Ein Gerüstbauer ist hier noch angesiedelt, ansonsten prägen Bauernhöfe das Landschaftsbild. Der letzte Einzelhändler schloss in den Neunzigerjahren seinen Laden. Bäcker und Fleischer fahren das Dorf jetzt mit ihren rollenden Läden an. Die Geschichte zurückzudrehen und neue Betriebe anzusiedeln ergebe aber keinen Sinn, meint Zander. „Wir setzen auf den Tourismus. Die Türme stören uns nicht, sondern bringen uns nur Vorteile.“

Durch die Gemeinde führt zum Beispiel der Fontane-Radwanderweg – eine vom Land Brandenburg entwickelte Route entlang der biografischen und literarischen Spuren des berühmten Dichters, der in diesem Jahr seinen 200. Geburtstag feierte. Eigentlich eine Steilvorlage für den Fremdenverkehr – und für Brandenburg so etwas wie eine kleine Seidenstraße. Im Dorf könnten Familien mit Kindern eine Pause einlegen und vielleicht sogar eine Nacht verbringen. Das Schloss Kleßen, ein vor 700 Jahren erbautes Rittergut, lockt mit Ferienwohnungen und einem kleinen Café. In der ehemaligen Schule ist ein Dorfmuseum „mit einer herrlichen Sammlung von Spielzeugen aus den vergangenen 200 Jahren“ (Zander) entstanden. Ohne Netz radelten die meisten Touristen früher vorbei. Das soll sich jetzt ändern. „Die Radwanderer kommen weiter oder nicht so weit wie ursprünglich geplant und suchen dann nach einer Unterkunft“, erklärt Zander die ökonomischen Folgen eines Funkloches. „Wer offline ist, erfährt nicht, dass es im Dorf ein paar Sehenswürdigkeiten und schicke Ferienwohnungen gibt.“

Profitieren will Kleßen-Görne auch noch von einem zweiten Trend: Kurzurlauber klinken sich nicht mehr komplett aus dem Büro aus. „Die Leute kommen nicht nur zum Erholen, sondern wollen weiter an ihrem Laptop arbeiten“, sagt Bürgermeister Zander. Seine Gemeinde sieht er sogar als idealen Tagungsort. 65 Kilometer vor den Toren Berlins biete das Schloss Kleßen mit seinem englischen Garten das ideale Ambiente. Es müsse sich nur noch herumsprechen, dass es hier kein Funkloch mehr gibt.

Dafür muss der Bürgermeister aber noch ein neues Problem lösen. In Kleßen-Görne fehlt noch eine Ladestation für Elektroautos. 65 Kilometer hin und 65 Kilometer zurück nach Berlin. „Vor allem im Winter wird das spannend“, meint Zander. „Viele stellen dann die Heizung im Auto ab, um Energie zu sparen und kommen mit beschlagenen Scheiben hier an.“

Der Vorteil ist aber, dass sie jetzt nicht mehr die Straßen absuchen müssen. Mit den beiden Funktürmen im Dorf erfahren zumindest die Telekom-Kunden auf ihrem Smartphone sofort, dass sie bei einem Ausflug nach Kleßen-Görne ihr Elektroauto nicht aufladen können.



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