Neujahrsvorsatz inmitten der Multilevelkrise Weniger Naivität – damit wir die nächste Zeitenwende nicht verschlafen

Krieg, Energiekrise und Klimawandel: All das treibt die Zeitenwende voran. Quelle: imago images

Die 2020er-Jahre stellen Politik und Wirtschaft vor ungeahnte Herausforderungen. Realisiert wurde die neue Weltlage erst, als sie nicht mehr wegzudiskutieren war – das ginge in Zukunft besser. Ein Gastbeitrag.

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Neues Jahr, neues Glück? Zeitenwende war das Wort des Jahres 2022; manche sprechen auch von einem Epochenbruch und sehen die postnormale Gesellschaft inmitten einer Multilevel- oder Permakrise. Neben Energieknappheit und Inflation finden erhebliche Verschiebungen bei Staatenbündnissen und in der Wirtschaftswelt statt, vom Klimawandel ganz zu schweigen. So weit, so herausfordernd. Welcher kollektive Neujahrsvorsatz folgt daher aus dem seit 2020 andauernden Ausnahmezustand von Pandemie- bis Kriegsfolgen?

Um die Frage zu beantworten, gilt es zunächst, zurückzublicken und sich einen Trugschluss einzugestehen: Das Wort des Jahres kam mehrere Jahre zu spät, denn die Zeitenwende fand nicht erst 2022 statt – da wurde sie lediglich endgültig sichtbar und war von niemandem mehr wegzudiskutieren. Das war Mitte des vergangenen Jahrzehnts noch anders, als Russland bereits einen Teil der Ukraine besetzt hatte, Xi Jinpings machtvolles Programm der Neuen Seidenstraße längst gestartet war, China die USA mit Blick auf das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt schon 2014 überholte und Narendra Modi indischer Premierminister wurde – mit der ambitionierten Reformagenda einer aufstrebenden Wirtschaftsmacht. Die Jahre vergingen, bis der Westen am Morgen des 24. Februar 2022 durch den russischen Überfall auf die Ukraine aus seinem Schlaf der Verdrängung und Verharmlosung erwachte.

Wem dieser Zeitraffer zu undifferenziert erscheint, den möchte ich im Rückblick mit auf eine dreimonatige Recherche nehmen, die mich im Jahr 2017 in Hauptstädte quer über den Erdball führte. Vor gerade einmal fünf Jahren spielten die heute omnipräsenten Themen wie die Abhängigkeit von anderen Märkten oder Lieferkettenprobleme noch so gut wie keine Rolle. In der Rückschau schwingt die Frage mit, welche Vorzeichen man damals hätte besser erkennen können oder sich gar ihre möglichen Folgen vor Augen führen sollen. In Moskau etwa erlebte ich eine Atmosphäre der Weltoffenheit. Es war die Zeit zwischen den Olympischen Winterspielen in Sotschi und der ebenfalls in Russland stattfindenden Fußball-Weltmeisterschaft. In den Metrostationen ertönten seit Kurzem Durchsagen auch in englischer Sprache. Einer meiner Gesprächspartner merkte dennoch an, dass es für die russische Staatsführung hilfreich sei, wenn die Bevölkerung den „Feind“ außen wähne. „Die russische Außenpolitik wird aus innenpolitischen Gründen betrieben. Man muss immer neue Aufhänger finden, um das Volk hinter sich zu halten. Ostukraine, Türkei, Naher Osten – da braut sich etwas zusammen, das irgendwann nicht mehr gesteuert werden kann.“ Seine Folgerung: „Ich kann mir für die Entwicklung Russlands alles vorstellen, im Guten wie im Schlechten – doch tendiere ich in die zweite Richtung.“

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Dem entgegen begab sich Deutschland damals immer weiter in Abhängigkeiten zum System Putin. Retrospektiv findet mancher, der zu dieser Zeit Verantwortung trug, immer noch mannigfaltige Gründe, warum so und nicht anders gehandelt wurde. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel etwa tut den Vorwurf, er habe ein halbes Jahr nach der russischen Krim-Invasion dem Verkauf großer Gasspeicher in Deutschland an russische Oligarchen-Investoren zugestimmt, auch jetzt noch mit Verweis auf die Liberalisierung des europäischen Energiemarktes ab. Dabei gab es 2014 durchaus deutlich vernehmbare Warnungen, dass die Unabhängigkeit der deutschen Energieversorgung durch diesen Schritt weiter eingeschränkt werde. Gabriel hätte den Verkauf mit Hinweis auf Sicherheitsinteressen stoppen können.

Der russische Präsident sollte mir auch in Neu Delhi begegnen, wo Postkarten mit Putins Konterfei zum Kauf angeboten wurden. „Sie mögen hier starke Führer. Modi ist ja derselbe Typ“, beschrieb der Händler eine an vielen Orten der Welt feststellbare Entwicklung. Indiens Wirtschaft hole massiv auf, legte eine dort beheimatete Expertin dar: „Es gibt Wachstumspotenzial ohne Ende. Indien wird China in einigen Jahren überholen.“ In Peking wiederum zeigte sich schon 2017 der Fokus auf die Elektromobilität, und zwar aus der Produktion eigener Hersteller, durch den das Land heute zwei Drittel der Exporte von Elektroautos stellt und zugleich zwei der drei größten Batterie-Hersteller beheimatet. Gleichzeitig schlug die chinesische Regierung einen Weg der Diversifizierung ein, deren Ziel einige Jahre später umso offensichtlicher wird: „Wenn man die Seidenstraßen-Politik verstehen will, muss man vor allem eines betrachten: Unser Land war lange von wenigen anderen Ländern abhängig – bald haben wir aber viele austauschbare Geschäftspartner“, erklärte mir ein Chinese vor fünf Jahren. Viele seiner Landsleute hielten die Europäer schon zu diesem Zeitpunkt für „Baizuo“, womit „Naivlinge“ gemeint sind, die sich für Umwelt, Gerechtigkeit, Frieden oder Minderheiten einsetzen.



Diese Verschiebung verstärkt sich von Jahr zu Jahr – mit wachsendem strategischem Vorteil Chinas auch in rohstoffreichen Ländern Afrikas. In Nairobi oder Kigali sah ich vielfach chinesische Infrastrukturhilfen im Gegenzug für Rechte wie den Abbau von Bodenschätzen, und zwar ohne die an westliche Fördermittel gekoppelten Bedingungen wie Umweltstandards, Arbeitsschutz oder Korruptionsbekämpfung. Es ist richtig, dass China in Europa inzwischen klarer als systemischer Rivale benannt wird – nur ist eine Definition allein noch keine neue Strategie. Denn die Volksrepublik ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands – jährlich werden Waren im Wert von mehreren Hundert Milliarden Euro zwischen beiden Ländern gehandelt.

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Auch wenn es erst fünf Jahre zurückliegt, wirkt es angesichts der aktuellen Entwicklungen wie eine halbe Ewigkeit her, dass ich vom noch in der Europäischen Union liegenden London nach Washington weiterreiste, wo der damalige US-Präsident Donald Trump zeitgleich den russischen Außenminister Sergej Lawrow im Weißen Haus empfing. Das Treffen sorgte im Nachhinein für Wirbel, als Trump bezichtigt wurde, darin sensible Geheimdienstinformationen an Russland gegeben zu haben. In der postnormalen Welt ist aber nicht auszuschließen, dass die beiden in einigen Jahren erneut im Oval Office verhandeln werden – nicht zuletzt nachdem Trump den russischen Präsidenten hinsichtlich des Überfalls auf die Ukraine als „Genie“ bezeichnete. Wie dann die Subventionsmaschine, die Trumps Nachfolger und Vielleicht-Vorgänger Joe Biden auch zum Nachsehen der Europäischen Union angeworfen hat, noch beschleunigt würde, mag man sich nicht vorstellen.

In den fortschreitenden 2020er-Jahren ist festzustellen, dass wir uns über längere Zeit zu sehr auf vermeintliche Sicherheiten verlassen und an vieles gewöhnt hatten – von billiger Energie aus Russland bis zu günstigen Arbeitskräften in China und anderen Ländern. Wir konnten uns nicht ausmalen, dass die in Asien hergestellten zwei Drittel der deutschen Medikamenten-Wirkstoffe nicht mehr allesamt rechtzeitig in unsere Apotheken gelangen. Wir wollten nicht wahrhaben, wie sich Länder mit anderer Prioritätensetzung als der unsrigen gemeinsam in BRICS oder OPEC+ positionieren – einschließlich Russlands. Zu spät wunderten wir uns, dass sich kein einziges Land aus Afrika oder Lateinamerika an den Sanktionen gegen Russland beteiligt, und auch nur drei aus Asien.

Stattdessen erwerben Staaten wie Indien russisches Öl, das zuvor westwärts verkauft worden wäre, und es entstehen neue Bündnisse aufstrebender Wirtschaftsnationen, die nicht auf Europa angewiesen sind. Und die Genese in Deutschland? Noch vor gut einem Jahr wurde die Übernahme der Mehrheitsanteile an der Erdölraffinerie PCK im brandenburgischen Schwedt/Oder durch den russischen Energiekonzern Rosneft genehmigt und begrüßt, und chinesische Staatskonzerne halten inzwischen Anteile an Terminals oder ganzen Hafenanlagen in mehr als einem Dutzend europäischer Häfen von Hamburg bis Rotterdam. Es ist nicht vorstellbar, dass dies in umgekehrter Konstellation auch im Hafen von Shanghai geschieht, was die Schieflage offensichtlich macht – und die Notwendigkeit aufzeigt, künftig nicht nur Abhängigkeiten zu verringern, sondern auch mehr auf das Herstellen einer Augenhöhe zu pochen.

All das sind Multilevel-Herausforderungen in Reinform. Wie sollte daher unser Vorsatz für das Jahr 2023 lauten, damit wir die nächste Zeitenwende – denn sie wird kommen – schneller erkennen? Wir müssen realistischere Szenarien entwerfen, die auch Entwicklungen einbeziehen, welche wir in diesem Moment noch für unwahrscheinlich halten. Auch in einer komplexer und lauter werdenden Zeit mit immer mehr öffentlich ausgetragenem Streit gilt es, mehr auf Anzeichen und Zwischentöne zu achten.

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